Kritik zu Ein Geheimnis

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In seinem Roman »Ein Geheimnis« spürt der Psychotherapeut Philippe Grimbert einer verdrängten Familientragödie nach. Claude Miller hat diesen Stoff, in dem sich Privates und Politisches mischen, verfilmt

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Im Frühjahr löste eine Ausstellung in Paris heftige Kontroversen aus, in der zum ersten Mal Farbfotos aus der Zeit der Besatzung zu sehen waren. Der von der Wehrmacht angestellte französische Fotoreporter André Zucca zeigte diese Jahre, wie man sie noch nie gesehen hatte: als farbenfrohe Prachtentfaltung einer unbeschwerten Epoche. In Ein Geheimnis herrscht eine ähnlich idyllische Atmosphäre. Weit entrückt scheinen die Schrecken des Krieges an den sonnüberfluteten Ufern der Creuse in der befreiten Zone, in die eine jüdische Familie geflüchtet ist. Ihr Leben vollzieht sich in kaum eingeschränktem, sinnenfrohem Überfluss. Die Verfolgung durch die deutschen Besatzer hat sich allmählich in ihren Alltag geschlichen; nur einmal ist eine Deportation zu sehen. Claude Millers Verfilmung des biografischen Romans von Philippe Grimbert wirft die gleiche, empörte Frage auf, die sich viele Betrachter vor Zuccas Fotos stellten: Ist es zulässig, in solchen Bildern von dieser Zeit zu erzählen?

Die Ereignisse, von denen der Film handelt, sind ihm schwer fassbar. Mit einer Erzählstimme aus dem Off versucht er, dingfest zu machen, was lange Zeit verschwiegen wurde. Es ist ein Geisterfilm über die Wiederkehr des Verdrängten. Behände verschachtelt er ein Halbdutzend Zeitebenen von den 1930er Jahren bis zur Gegenwart: in einer Erzählstruktur, in der visuelle und akustische Echos das Fortwirken des Vergangenen unterstreichen.

Als sein greiser Vater Maxime (Patrick Bruel) spurlos verschwindet, nachdem sein Hund überfahren wurde, erinnert sich der Psychotherapeut François (Mathieu Amalric) an eine Tragödie, von der seine Familie seit dem Krieg unerlöst heimgesucht wird. Als Kind litt er unter der Geringschätzung seines Vaters und erfand sich einen älteren Bruder. Jahre später erst hat er erfahren, dass er tatsächlich einen Halbbruder besaß und dass sein Vater vor der Ehe mit Tania (Cécile de France), die als Schwimmerin und Mannequin erfolgreich ist, schon einmal verheiratet war.

Radikal scheren Grimberts Familienchronik und Millers Adaption aus der üblichen Repräsentation jüdischer Opfer im französischen Kino aus. Diese gehören gemeinhin dem Bildungsbürgertum an, sind assimiliert; das Anderssein bleibt ihnen verwehrt. »Ein Geheimnis« rührt an ein zweifaches Tabu, in dem er nicht nur jüdisches Brauchtum relativ ausführlich schildert, sondern seinen Figuren auch »anstößige« Leidenschaften zubilligt. Maxime setzt dem landläufigen Bild des vergeistigten Juden ein nachgerade »arisches« Körperideal entgegen, dem seine athletische Frau genügt, nicht aber sein schmächtiger Sohn. Und er untersagt seiner Familie, den gelben Stern zu tragen. Die Verleugnung der jüdischen Identität hat furchtbare Konsequenzen, als sich Maximes erste Frau Hannah im entscheidenden Moment zu ihr bekennt.

Die gesellschaftliche Identität ist in Millers Filmen stets eine heikle Konstruktion. Er löst seine Charaktere nachdrücklich aus dem Bild, das ihre Umgebung sich von ihnen macht. Die abgründigen Leidenschaften, die er in Kriminalfilmen wie »Das Verhör« und »Das Auge« enthüllt hat, sind die Kehrseite der Häutungsprozesse, die er in Chroniken des Heranwachsens wie »Das freche Mädchen« und »Die kleine Diebin« schildert. Grimberts Buch fügt sich verblüffend in die Ikonographie dieses Kinos, das bevölkert ist von Figuren, die sich ein Alter Ego erträumen.

Konsequent machen sich Miller und seine Koautorin Natalie Carter François’ Perspektive zu eigen. Diese Subjektivierung des Erzählens besitzt große Freizügigkeit und Empathie; immer wieder irritiert der Einsatz von Nah-Schuldhaftes Glück und zerbrechliche I dentität: Maxime (Patrick Bruel) mit seiner zweiten Frau Tania (Cécile de France) aufnahmen, in denen der Junge Besitz ergreift von intimen Momenten, die sich lange vor seiner Geburt zutrugen. Ein Geheimnis ist ein Film über die Verfänglichkeit der Schaulust. Als Halbwüchsiger betrachtet François seine Eltern beim Liebesspiel, ohne dass dies in ein Trauma münden muss. Zugleich lässt der Blick durch verschlossene Fenster oder in den Spiegel das Vertraute als fremd, unerreichbar erscheinen. Das romantische Ideal, das der Sohn sich für seine Familie erträumt, ist bedingt, wird unterminiert.

Die Verdrängung ist dabei auch ein wohlüberlegtes Stilprinzip. Die Wirklichkeit ist korrumpiert in diesem Film. In dem aufschlussreichen Interviewband »Serrer la Chance« rechtfertigt der Regisseur gegenüber der Journalistin Claire Vassé seine ästhetische Entscheidung: Nach dem Lesen des Buches wurde ihm klar, dass er nicht das Recht habe, über die Perspektive des Jungen den realistischen Blick eines Erwachsenen zu stülpen.

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