Kritik zu Dreissig
24 Stunden aus dem Leben von sechs Berliner:innen, die sich abends zur Geburtstagsparty treffen: Nichts Besonderes, sollte man meinen, ist es aber dann als Regiedebüt doch
Schon der Anfang ist ein Statement: Rund neun Minuten dauert die Plansequenz, in der Övünç (Övünç Güvenisik) sich aus dem Bett schält, sein klingelndes Handy sucht, zwei Kippen raucht und seinen Gedanken nachhängt, wohl auch wegen seiner abends anstehenden Geburtstagsparty, um die es im Telefonat ging. Dann ein Griff neben das Bett, zum Staubsauger, der dröhnend für eine kleine Ewigkeit die Tonspur penetriert.
Dieses Spiel treibt Simona Kostova in ihrem wunderbar unverbrauchten Debüt »Dreissig« des Öfteren. In einer Weiteren der Miniaturen, mit denen der Film die sechs Freunde vorstellt, die sich später auf Övünçs Party treffen werden, ist es ein Mixer. Wie mit einer Motorsäge zerschneidet Raha (Raha Emami Khansari) mit dem Küchenmonstrum Karas (Kara Schröder) ausführlichen Monolog über die Vernissage einer feministischen Künstlerin.
Ohne viel Vorgeplänkel lernen wir sie kennen: Övünç, Geburtstagskind, Schriftsteller mit Schreibblockade, Kara, nomadisch umherziehend und gefühlsverunsichert, Raha, deren Schauspielkarriere nicht recht anlaufen will und Pascal (Pascal Houdus), der sich frisch von Raha getrennt hat und von anderen Orten und Leben träumt. Und Henner (Henner Borchers), den Verpeilten, der tagsüber in der Kneipe abhängt und Övünç mit Anja (Anja Langer) bekannt macht, die auch zur Party eingeladen wird.
Damit ist erst mal alles da, was so ein Berlinfilm heutzutage braucht. Junge Menschen auf der Suche, Beziehungskisten, Party, später auch Techno. Doch wie Henning Gronkowski in seinem authentischen Wirklichkeitssplitter »Yung« findet auch Kostova einen ganz unpädagogischen Zugang zu ihren Figuren. Im klassischen 4:3-Format fängt Kameramann Anselm Belser das Geschehen ein, die Einstellungen sind lang und lassen uns Zeit, zu lesen: aus den Halbsätzen, Andeutungen und aus den Gesichtern der Freunde.
War »Yung« das zugespitzte Porträt der Generation Z, fängt »Dreissig« das Lebensgefühl an jener Schallmauer ein, die für viele den gefühlten Übergang von jung zu gesetzt markiert: der 30. Geburtstag. Einen Tag und eine Nacht hindurch folgt der plotfreie Film den Grenzgängern, dramaturgischer Müßiggang ist das erzählerische Prinzip. Das mag bisweilen anstrengen, vor allem später, wenn die Kakophonie des Nachtlebens das Treiben bestimmt und immer wieder laute Musik und Stimmgewusel alles überlagern. Doch es ist eine kluge Strategie, mit der Kostova sagt: Schaut genau hin.
Es geht von Bar zu Club zu Bar zu Club durch die Berliner Nacht. Jazz, experimentelle Musik, ein Zitat von Tschechow. Schließlich stampfende Technobeats in einem düsteren Keller, in dem ein Remix von »Change Your Heart« den kurzen emotionalen Ausnahmezustand von Kara kommentiert. Und wenn der Film dann beim Frühstück endet und eigentlich alles wie gehabt ist: Dann ist man doch baff, wie nah man dem Lebensgefühl dieser Menschen gekommen ist, über die eigentlich kaum etwas erzählt wurde. Eigentlich.
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