Kritik zu Austerlitz

© déjà-vu film

2016
Original-Titel: 
Austerlitz
Filmstart in Deutschland: 
15.12.2016
L: 
94 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Wie schon sein Dokumentarfilm zur ukrainischen Revolution »Maidan« polarisiert Sergei Loznitsas neuer Film erneut das Publikum. Und das, obwohl er »nur« in gewohnt langen Einstellungen Besucher einer Gedenkstätte filmt

Bewertung: 4
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Auf den ersten Blick besitzen die Bilder fast etwas Idyllisches: Man sieht einen steten Strom von Touristen, die an einem Sommertag eine Art Freilichtmuseum besuchen, auf dem auch geschlossene Bauten stehen. Die Touristen zeigen viel Haut, tragen oft kurze Hosen oder haben sich nachlässig ein Kleidungsstück um die Hüfte geschlungen, manche sind bekleidet mit T-Shirts, deren witzig gemeinte Schriftzüge das Leben kommentieren. Sie haben Rucksäcke und Kinderwagen dabei, sie bleiben stehen, fotografieren das Ausgestellte oder sich gegenseitig, sie trinken und vespern. Ein Mikrofon fängt das stete Rauschen ihrer Gespräche ein, aus denen ab und an die dröhnende Rede eines Reise- oder Ausstellungsführers heraustönt. Die Stimmung ist von bildungsbürgerlicher Anstrengung und der damit einhergehenden Neigung zur Müdigkeit geprägt. Im Großen und Ganzen aber benimmt sich niemand besonders auffällig. Es ist eine Prozession der absoluten, demonstrativen Normalität. Und zugleich ist es das absolute Gegenteil, geradezu die Perversion davon. Denn diese Touristenprozession führt nicht durch irgendeine antike Ruine, sondern durch die Konzentrationslager-Gedenkstätte Sachsenhausen.

Sergei Loznitsa filmt die Gedenkstättenbesucher in kontrastreichem Schwarz-Weiß und in langen, starren Einstellungen. Die Kamera hat er in einiger Distanz aufgebaut, aber die ungeheure Schärfentiefe – sichtbar nur, wenn jemand lange auf die Kamera zugeht, ohne je aus dem Fokus zu geraten – macht die Einschätzung der tatsächlichen Distanz schwierig. Den Blickwinkel wählt Loznitsa in jeder Einstellung so, dass der Filmzuschauer so gut wie nichts von der Ausstellung in der Gedenkstätte sieht, nur die Besucher und ihre nach unten, nach oben, nach vorn gerichteten Blicke. Erst in der letzten Einstellung, in der das Tor mit der ominösen, geschmiedeten Inschrift »Arbeit macht frei« sichtbar ist, hat der Filmzuschauer überhaupt eine Chance zu erkennen, wo gefilmt wurde. Aber da hat ihn Loznitsa längst zum unerbittlichen Beobachter der Besucher gemacht. Und förmlich zum Nachdenken und Urteilen darüber gezwungen, was er da sieht. Der teilnahmslose Blick Loznitsas auf die Touristen nämlich lässt sie absolut herzlos, ja fast unanständig wirken mit ihrer Fettleibigkeit, ihren unpassend beschrifteten T-Shirts und ihrer Touristenapparatur.

Bei seiner Premiere in Venedig hat »Austerlitz« zwei sehr gegenteilige Reaktionen hervorgerufen. Die einen fühlten sich als Komplizen Loznitsas und ereiferten sich über das leichtfertige, sorglose Gebaren der Touristen, die offenbar »ohne sich was zu denken« auch noch die Dreistigkeit besäßen, sich am »Arbeit-macht-frei«-Tor zum Andenken fotografieren zu lassen. Die anderen fühlten sich als Komplizen der Gedenkstättenbesucher und empörten sich darüber, dass hier die doch wohlmeinenden Touristen verunglimpft würden, deren Äußeres wenig darüber aussage, was sie tatsächlich an einem Ort wie Sachsenhausen empfinden. Und überhaupt: Sollte der Einlass nur unter Einhaltung eines Dresscodes erfolgen? Sollte überprüft werden, ob die Besucher »richtig« und nicht etwa frivol oder gar nicht »gedenken«?

Der Film als solcher – der Titel »Austerlitz« soll sich auf den gleichnamigen Held des Romans von W. G. Sebald beziehen – kommt ohne Kommentar aus. Tatsächlich fällt die Wut des Kinozuschauers auf die – vermeintliche – Gleichgültigkeit der Touristen (»Everbody hates a tourist« sangen Pulp in ihrem Song »Common People« 1995) letzten Ende auf ihn selbst zurück. In ihr spiegelt sich die verborgene, durch kein gutes Benehmen zu beschönigende Grausamkeit der Gedenkstätte selbst wider. Die Erinnerung an unaussprechliches Leid wird zur pädagogischen Besichtigung freigegeben. Das Aufgeräumte, für Touristen Eingerichtete der Anlage steht im höhnischen Widerspruch zur Gewalt, die hier ausgeübt wurde, zu den Schmerzen, die erlitten werden mussten. Die anonymen, nach außen so gleichgültig wirkenden Besuchermassen erzeugen diesen brutalen Widerspruch nicht erst, sie machen ihn aber sichtbar.

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