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Nach einer wahren Geschichte: Eine Lehrerin animiert ihre Banlieue-Problemklasse zur Teilnahme an einem Projekt zum Thema Holocaust
Der Hinweis auf eine »wahre Geschichte« ist im Kino bekanntlich mit Vorsicht zu genießen. Er verspricht Wahrhaftigkeit, dabei weiß man meist nicht einmal, welche Aspekte von den Filmemachern ausgeblendet oder in genehmer Weise »interpretiert« wurden. Bei »Die Schüler der Madame Anne« scheint der Verweis auf den Realitätsbezug vor allem deshalb wichtig, weil die Geschichte eigentlich viel zu hübsch ist, um wahr zu sein: Anne Gueguen ist eine Lehrerin, die eine berüchtigte Problemklasse in einer Pariser Banlieue unterrichtet. Während ihre Kollegen die Schüler längst aufgegeben haben, glaubt sie an deren guten Kern: »Es gibt eine Welt jenseits der Peripherie – und dort habt auch ihr einen Platz!«, lautet ihr ermutigender Wahlspruch an die vorwiegend aus nordafrikanischen Migrantenfamilien stammenden Jugendlichen. Eines Tages bietet sie den Schülern die Teilnahme an einem landesweit ausgeschriebenen Projekt zum Thema »Widerstand und Deportation im Frankreich des Nationalsozialismus« an. Nach anfänglicher Ablehnung nimmt überraschenderweise fast die gesamte Klasse an dem Projekt teil, mit erstaunlichen Ergebnissen.
Am Drehbuch zu »Die Schüler der Madame Anne« wirkte einer der Schüler mit, von dessen Klasse die Geschichte erzählt; im Film spielt er sich selbst. Doch obwohl die Schilderungen sich nah an die Fakten zu halten scheinen, wirkt der Film in seinem didaktischen Impetus kurzsichtig und geradezu falsch. Jenseits der erbaulichen Geschichte von den strebsamen Banlieue-Teenagern interessiert er sich nämlich kein bisschen für die Schüler. Als fürchteten Drehbuch und Regie sich davor, die Besonderheiten des sozialen Kontextes herauszuarbeiten, konzentrieren sie sich gänzlich auf das Projekt, bei dem die Jugendlichen erstmals mit den Verbrechen der Nazis konfrontiert werden. Der Bezug dieser Ebene zu den zeitgenössisch interessanten Aspekten der Geschichte bleibt oberflächlich; selbst der Auftritt des Holocaust-Zeitzeugen Léon Zyguel ist vor allem auf den emotionalisierend-didaktischen Effekt hin inszeniert: Brachten die rotzfrechen Schüler zu Beginn eine Lehrerin zum Weinen, werden sie nun von Zyguels Erzählungen selbst zu Tränen gerührt.
Die Zeichnung der multiethnischen Jugendlichen entspricht dabei den üblichen Stereotypen: Es gibt den rebellisch-sensiblen Schwarzafrikaner, den machohaften Moslem, die weltoffene, von Glaubensbrüdern bedrohte Araberin und dazwischen den schmächtigen französischen Außenseiter. Über ihr Leben in den französischen Trabantenstädten, ihre familiären Prägungen und inwiefern das Schulprojekt sich darauf auswirkt, erfährt man nichts. Auch sonst werden gesellschaftliche Probleme oder Konflikte zwischen den Jugendlichen höchstens angedeutet. Am ehesten kann man »Die Schüler der Madame Anne« als Pädagogenkino betrachten, das anderen Schülern aus Problemvierteln als Vorbild dienen soll. Ob diese »wahre Geschichte« allerdings irgend etwas mit den Realitäten der Banlieues zu tun hat, steht auf einem anderen Blatt.