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Als es noch zwei Deutschlands gab, die sich vielleicht ähnlicher waren, als sie es sein wollten: Christian Schwochow verfilmt Julia Francks Roman »Lagerfeuer« über ­eine aus der DDR in die BRD ausreisende junge Frau

Bewertung: 4
Leserbewertung
3.5
3.5 (Stimmen: 2)

Der Anfang von Christian Schwochows Film »Westen« macht nicht richtig froh. Dabei nimmt Frank Lamms Kamera eine Winteridylle auf. Vater, Mutter und Kind liefern sich im frostigen Ostberlin Mitte der 70er Jahre eine ausgelassene Schneeballschlacht. Die lustige Melodie transportiert jedoch beunruhigende Molltöne, das Glück erscheint bedroht. Dann macht der Film einen Zeitsprung. Drei Jahre später stehen Nelly (Jördis Triebel) und ihr Sohn Alexej (Tristan Göbel) verloren und verzweifelt am selben Ort in Ostberlin. Nellys Freund und Alexejs Vater, ein russischer Wissenschaftler, ist bei einem Autounfall in seiner Heimat ums Leben gekommen. Nelly fühlt sich in der DDR nicht mehr zu Hause, die Stasi stellt seltsame Fragen, die promovierte Chemikerin stellt einen Ausreiseantrag. Nach obligatorischen Schikanen gelingt Nelly und Alexej die Ausreise. Unterkunft finden sie im Notaufnahmelager. Willkommen in der Freiheit – oder etwa nicht? Heide Schwochows Drehbuch nach dem Roman ­»Lagerfeuer« von Julia Franck kennt kein Mitleid mit seiner Hauptfigur. Wie auch anders? Nelly erfährt Verunsicherung und Panik, Schikane und Erniedrigung auch in der Bundes­republik.

Der Westen fremdelt mit den Neuen, die Bürokratie ist unersättlich, ohne zahlreiche Stempel und ausgefüllte Formulare ist Nelly kein richtiger Mensch. Die Amerikaner in Person des CIA-Mitarbeiters John Bird (Jacky Ido) interessieren sich für die ehemalige Freundin eines (angeblich?) verstorbenen russischen Wissenschaftlers. Nelly klingt das Echo des Totalitären in den Ohren. Ihre Freiheit muss sie sich hart erarbeiten. Wem kann sie trauen? Am ehesten noch der aus Polen stammenden Musikerin Krystina (Anja Antonowicz). Vielleicht dem verschlossenen Hans Pischke (Alexander Scheer) aus dem Notaufnahmelager, der sich rührend um den überforderten Alexej kümmert. Pischke saß einst in Bautzen ein, erzählt er. Doch das könnte auch die Legende eines Stasispitzels sein.

Regisseur Christian Schwochow, bekannt durch seine Filme »Novemberkind« (2008) und »Die Unsichtbare« (2011) sowie die Fernseh­adaption von Uwe Tellkamps Roman »Der Turm« (2012), erzählt eine spannende deutsch-deutsche Geschichte. Aber »Westen« ist mehr als Geheimdienstthriller und Dokufiktion: eine Parabel über Entwurzelung und Einsamkeit, die Widrigkeiten des Neubeginns und die Wiederbelebung erstorbener Gefühle. Schwochow gelingen fiebrig-intensive Momentaufnahmen vom menschlichen Miteinander. Im Mittelpunkt steht Jördis Triebel, die von der ersten Einstellung an die Aufmerksamkeit des Publikums beansprucht. Ihre Nelly ist wie ein Seismograf, der alle Impulse von außen aufzeichnet, auswertet und dokumentiert. Da werden die Entbehrungen und Ängste der jungen Frau sichtbar, ihre Widerständigkeit und offene Art, mit Männern umzugehen, ihre selbstzerstörerische Aggressivität. Paranoia und Poesie drückt Triebels Mienenspiel aus, die Furcht, unterzugehen, und das Bedürfnis, dem toten Freund wenigstens in Wunschbildern und Fantasien nahe zu sein. Großes Schauspielerkino.

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