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Jean-Pierre Jeunets rasantes Märchen um eine verschlossene junge Frau

Bewertung: 4
Leserbewertung
2.5
2.5 (Stimmen: 2)

Das Märchen von der bezaubernden Amélie ist eine perfekt designte Bilder-Droge, die heftigste Glücksgefühle beschert. Jeunet, dessen Schule Cartoons und Animationsfilme waren, bedient sich virtuos der Clip-Ästhetik und bearbeitet den Zuschauer mit einem Stakkato an witzig-kuriosen Einfällen, mit präzis getimtem Augenzwinkern im Zehntelsekunden-Takt. In seiner Heldin beschwört er die zentrale Phobie des medial umzingelten Menschen: die panische Angst davor, dass die Wirklichkeit etwas anderes sein könnte als ein blankpoliertes Bild und die Menschen sich anders zeigten denn als Ansammlung von Idiosynkrasien.

Der fabelhafte Erfolg des Films hat selbst die Franzosen überrascht. Von der Auswahlkommission des Festivals von Cannes verschmäht, hat Amélie die Herzen der Franzosen im Sturm erobert, mittlerweile fast sechs Millionen Zuschauer ins Kino gelockt, und wird auch hier zu Lande zum Hit, wenn man die Begeisterung des Publikums beim Münchner Filmfest als Indiz nehmen kann. Schon machen Politiker Amélie zum Maskottchen, wie es ähnlich mit Tom Tykwers »Lola« geschah. Jeunet überrascht mit einer rummelplatzfröhlichen Idylle, nachdem er in »Delicatessen« (1991), »Die Stadt der verlorenen Kinder« (1995) und seiner Hollywoodexkursion »Alien – die Wiedergeburt« (1997) durch apokalyptische Szenarien streifte: durch Höhlen, Bunker, Ruinen, Sadismus, Kannibalismus, und Mensch-Maschine-Horror. Nach den Monstern kreiert er nun eine Glücksfee und verwandelt Klaustrophobie in Lebensfreude.

Amélies Erscheinung – Kulleraugen, Ponyfrisur, schüchtern-verschmitztes Lächeln – ist das Inbild der romantischen Chanson-Französin, und ihr Ambiente ist das melancholische Bistro-Amour-Paris à la René Clair. Im Zeitraffer werden die Figuren charakterisiert, nach einem Muster, das Jeunet schon im Kurzfilm »Foutaises« (1989) durchgespielt hat: Trick- und einfallsreich wird eine Liste ihrer Vorlieben und Abneigungen bebildert. Der Held in Foutaises (Jeunets Lieblingsdarsteller Dominique Pinon) liebte das Lachen von Richard Widmark, den Sand zwischen den Buchseiten nach einem Urlaub am Meer und hasste den Sendeschluss im Fernsehen sowie die traurigen Weihnachtsbaumskelette auf den Trottoirs Anfang Januar. Amélies Vater nun hasst es, wenn im Schwimmbad die Badehose an den Beinen klebt, und liebt es, in seinem Werkzeugkasten peinlichste Ordnung zu schaffen. Amélies Mutter liebt die Kostüme der Eiskunstläufer und hasst es, wenn die Haut in der Badewanne schrumpelig wird.

Als Kind ist Amélie einsam bis ins Autistische. Der Vater, Arzt, impft ihr panische Furcht vor einem Herzfehler ein. Die Mutter, Lehrerin, unterrichtet sie zu Hause und schirmt sie vor der Welt ab. Groß geworden arbeitet Amélie als Bedienung in einer Montmartre-Brasserie, lebt aber immer noch in sich verschlossen, unendlich eingeschüchtert und weltabgewandt vor sich hin, bis sie eines Tages beschließt, dass es ihre Mission sei, anderen Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen. Sie tröstet eine verwitwete Hausmeisterin mit gefälschten Briefen, versorgt einen alten Maler mit Kuriositäten-Videos, manövriert eine hypochondrische Zigarettenverkäuferin in eine Liebesaffäre und schickt den Gartenzwerg ihres Vaters auf eine Weltreise. Endlich bemerkt sie, dass sie auch Schmied ihres eigenen Glücks sein sollte, und nähert sich ihrem Herzbuben auf den verzwickten Umwegen einer amourösen Schnitzeljagd. Alle Schicksale spiegeln das eine: Wie kann man den Kokon eines heillos in sich versponnenen Menschen aufbrechen?

Jeunets Film ist ein Meisterstück poetisierender Rhetorik, rasant wie ein Karussellfahrt, süß wie Zuckerwatte, bunt wie eine Postkarte. Ein Vergnügen, dem man sich nicht entziehen mag, das aber nicht vergessen lassen sollte, dass im Herzen von Jeunets Rhetorik die Mechanik des Auflistens und des kauzigen Einfalls sitzt und dass wirkliche Poesie etwas anderes ist. Was Serge Daney über René Clair, den »Vorvater des Werbeclips«, schrieb, gilt gleichermaßen für Jeunet: »Er war derart verliebt in die zeitrafferartige Beschleunigung, dass alle Dauer für ihn zur Hölle wurde. Seine Poesie entsteht nicht aus der Erforschung der Wirklichkeit vor der Kamera, sondern aus dem hurtigen Defilée von bereits poetisierten Objekten. So bleibt ihm das verschlossen, was nicht schon von der Folklore kodiert ist; so ist er blind für alles, was im Schauspieler über die Marionette hinausgeht.«

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