Kritik zu Ich seh, Ich seh

© Neue Visionen

2014
Original-Titel: 
Ich seh, Ich seh
Filmstart in Deutschland: 
02.07.2015
L: 
99 Min
FSK: 
16

Eine Geschichte aus der genuin österreichischen »Twilight Zone«. Zehnjährige Zwillinge und ihre geheimnisvolle Mutter verstricken sich in einem besonders grausamen Familienhorror. Ein wahres Wiegenlied des Todes

Bewertung: 3
Leserbewertung
4
4 (Stimmen: 3)

Es beginnt mit einer Apotheose familiärer Sentimentalität. Wir sehen eine Szene aus Wolfgang Liebeneiners Trapp-Familie aus den 50er Jahren. Ruth Leuwerik singt mit ihrer Kinderschar ein klassisches Wiegenlied. Die Kinder wirken andächtig, demütig, auf seltsame Weise traurig. Tiefe Abgründe scheinen in diesem Bild einer heilen Welt aufzublitzen, auch dann, als sich Ruth Leuwerik in der Mutterrolle mit einem Blick, in dem sich Prüderie und Sex Appeal mischen, direkt an uns, das Publikum, wendet und Gute Nacht wünscht.

Jetzt beginnt erst die eigentliche Geschichte des Films von Severin Fiala und Veronika Franz. Diese Geschichte könnte also nach Leuweriks Gute-Nacht-Gruß ein Traum sein, ein Alptraum gar, ein Nachtmahr über Mütter und Kinder. Von Anfang an gibt es keinen Zweifel, dass wir uns in jedem Bild auf vagem Grund bewegen.

Zwei kleine Jungs, die Zwillinge Lukas und Elias, blass, blauäugig, schön und verletzlich, von gewaltiger Unschuld durchdrungen, spielen in der sommerlichen Natur Verstecken. Funny Games der Wahrnehmung zwischen Licht und Schatten scheinen sie aufzuführen im Dschungel eines Maisfelds oder im unergründlichen Wasser eines Teiches. Wenn diese brüderlichen Doppelgänger sich selbst gebastelte Masken aufsetzen, sehen sie aus wie kindliche Barbaren der Natürlichkeit.

Ihr Zuhause ist ein hypermodernes Haus. Dieses sachliche transparente Gebäude, das verloren und fremd in der Natur steht, ist freilich ein Spukschloss des modernen Horrors. Das Anwesen, das wie aus der Suburbia von Ulrich Seidls Hundstage in die ländliche Provinz transplantiert erscheint, entpuppt sich als Gebäude ohne Identität mit artifiziellen Geisterbildern an den Wänden. Dabei ist der Neubau wohl als Neuanfang gedacht, als Sanatorium für versehrte Seelen. Denn das Zuhause der Zwillinge stellt eine kaum verheilte Welt der körperlichen und seelischen Wunden dar. Die Mutter von Lukas und Elias, eine TV-Moderatorin, hat gerade die Trennung von ihrem Lebenspartner hinter sich, zudem ist ihr verletztes Gesicht hinter Bandagen verborgen, wahrscheinlich infolge einer Schönheits-OP. Die Augen ohne Gesicht der von Susanne Wuest großartig verkörperten Mutter sind von schrecklich schöner Intensität, sie sind jetzt tatsächlich offene Fenster zur Seele.

Verletzte, bandagierte Gesichter von Frauen: das ist ein bizarr-poetischer Topos zwischen Pulp und Surrealismus, den das Horrorgenre und das Melodram bevorzugen. Georges Franju hat ihn benutzt in Les yeux sans visage, Pedro Almodóvar in Die Haut, in der ich wohne und zuletzt Christian Petzold in Phoenix. Der Gesichtsverband ist dabei eine besondere Fetischmaske, die Mysterium, Metamorphose, Identitätswechsel sowie die Erotik von Wunden und Heilung signalisiert.

Die erste Hälfte des Films, in der die Zwillingsbrüder immer mehr daran zweifeln, ob es sich bei der schönen, versehrten Frau, die ungeduldig, gereizt und schließlich ungerecht und paranoid auf die Jungs reagiert, tatsächlich um ihre Mutter handelt, ist auf mehreren Ebenen von großer Spannung gekennzeichnet. Da ist filmimmanent das sinnliche, märchenhaft-sadistische Spiel zwischen zwei Brüdern und ihrer Phantommutter, die in der Wahrnehmung der Kinder zum Monster wird, zur terrorisierenden Stiefmutter aus der Hölle. Darüber hinaus provoziert der Film die Sichtweise des Zuschauers, sein Einfühlungsvermögen und sein Mitleid. Man ist gewiss zuerst aufseiten der Zwillinge, denen nur der Katholizismus eine angsterfüllte Schuld zuweisen könnte. Aber diese Perspektive wird schnell erschüttert, als die Jungs den Spieß umdrehen und die verhasste Mutter quasi in Geiselhaft nehmen.

Doch im letzten Drittel bekommt das anspruchsvolle Genrewerk erhebliche Probleme. Der Film wird nämlich unversehens zum torture porn. Bei der Darstellung der Folterung der Monstermutter gibt der Film seine Poesie der Ambiguität zugunsten einer gnadenlosen Anatomie der Grausamkeit auf, wie man sie kennt aus dem österreichischen Kino. Eine Grausamkeitsstudie, die sich vielleicht erklären lässt durch die Wirklichkeit von Kriminalfällen wie Kampusch und Fritzl.

Man stellt sich zwei Fragen im zwiespältigen Finale des Films: Ist die egoistische Mutter, die so sehr bestraft wird, eine so falsche Mutter wie einst Ruth Leuwerik? Und würden David Cronenberg oder Dario Argento Sekundenkleber als Mittel gegen Grausamkeit wählen? Am Ende des in vielen Facetten eigentlich schönen Films killt der künstlerische Austria-Realismus das Genre, das Notturno, das fantastische Wiegenlied, das die Realität des Lebens für Momente überwinden könnte.

Meinung zum Thema

Kommentare

So eine schöne Kritik. Analyse, Subjektives, Filmverweise.. richtig rund. Vielen Dank dafür!

Mir ist noch nicht klar, was schlimmer war, dieser verstörende Film oder diese, eben gelesene, Filmkritik.

Das ist ein verstörender Film und nicht weiter zu empfehlen.

Ich habe den ilm eben im TV gesehen und bin immer noch etwas geschockt. Bin nicht ängstlich oder mimosig von natur, doch mag ich lieber Grusel Filme die von der Atmosphäre leben und nicht blutig werden. Diese bösartige Phantasie der Kinder hat mich angeekelt und ich hätte spätestens umgeschaltet, als die Mutter den Mund voller Blut hatte nachdem ein Junge versuchte den zugekleben Mund mit der Schere zu öffnen. Die Neugier wie der Film ausgeht war größer. Aber noch mal brauch ich sowas nicht....

Ziemlich geschwollene und verschwurbelte Worte in dieser Kritik.

Furchtbarer Film mit ebensolcher Handlung. Ich habe schon einige Psychothriller, Horrorfilme und absurde andere Sachen gesehen aber die Österreicher haben einen Hang zu absoluter Skurrilität. Hatte anschließend den Film gegoogelt und natürlich war es ein Film von Ulrich Seidl. Alle Filme, die ich zufällig von ihm sah, sind meiner Meinung nach kranker Sch...Auch, wenn dieser nun nachverfilmt wurde. Wie krank muss jemand sein, der sich so etwas ausdenkt. Und eben genannter Herr Seidel scheint sich psychisch in ebensolchen Sphären zu bewegen. Widerlich und keinesfalls zu empfehlen.

Ich fand ihn gar nicht so schlecht und es geht ja um die Psychose des jungen, nachdem sein Bruder starb. Ske Brutalität ist noch okay ist jedoch ein Stilbruch zu dem sonst sehr ruhigen und harmlosen Film. Ich habe schon viele Horrorfilme gesehen und schön ist es doch, wenn ein Film es vermag zu schocken und zu überraschen. Das hat dieser Film geschafft. Toll!

Ein Stilbruch war es eindeutig und kein besonders Guter.

Und als jemand der sich schnell gruselt und erschreckt war ich in diesem Film nicht einmal erschrocken oder habe mich gegruselt.

Also am Anfang wirkt es noch spannend man warte quasi auf den Horrormoment der tritt aber nicht wirklich ein.
Gegen Ende wenn die Zwillinge brutal werden ist einfach nur noch unpassend für den Film. Die Brutalität passt nicht wirklich rein.
Und die Auflösung des Ganzen ist so rar noch rasch flüchtig ans Ende geklatscht.
Also das war weder wirklicher Horror noch wirkliche Spannung.
Einfach nur...verschwendete Zeit.

Sehr, sehr beeindruckende Studie des Seelenlebens einer Eltern-Kind-Beziehung nach einem bzw. zwei Verlusten. Aber auch schwer zu ertagende Bilder einer verkehrten Realität, in der die Kinder die Stärkeren sind. Sehenswert, aber nur für starke Nerven.

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