Berlinale 2019: Zwischen gestern und morgen

Finlay Wojtak-Hissong, Bill Nighy in »The Kindness of Strangers« (2019). © Per Arnesen

Es ist schon merkwürdig. Dieter Kosslick hat für den »Riesentanker« Berlinale Reihen wie »Kulinarisches Kino« oder »Berlinale Goes Kiez« erfunden und die Serien ins Festivalbusiness eingeführt – das hört sich deftig und erdig an. Aber in seinem Wettbewerb herrschte meist eine gewisse Sprödheit: strenge Bilder, politische Haltung, ein Hauch von Arte Povera, wenn man so will. Der Trend kulminierte im letzten Jahr, als der Goldene Bär an Adina Pintilies »Touch Me Not« ging, ein halbexperimentelles Langfilmdebüt über Körperbilder und Neosexualitäten, das Nebenwirkungen auslösen konnte, wenn man den theoretischen Beipackzettel nicht gelesen hatte. 

Die 69. Berlinale ist Kosslicks letzte. Der Mann, der das Festival seit 2001 notorisch gutgelaunt geleitet hat, verabschiedet sich nicht ohne Bedauern. Künftig wird es eine Doppelspitze geben: Carlo Chatrian, bisher Chef in Locarno, fürs Künstlerische, Mariette Rissenbeek in der Geschäftsführung – das Ergebnis einer kritischen, aber in zweifelhaftem Ton geführten Debatte um die ästhetische Qualität des Wettbewerbs.

Das aktuelle Line-up versammelt in der aus 17 Filmen bestehenden Bären-Konkurrenz viele Regisseurinnen und Regisseure, die mit der Berlinale bekannt sind oder hier »entdeckt« wurden – von der Dänin Lone Scherfig (»Italienisch für Anfänger«), die mit »The Kindness of Strangers«, einem Ensemblestück um vier Menschen, die in New York einen schweren Winter durchmachen, das Festival eröffnet, über den Franzosen François Ozon, der einen Film über Missbrauch in der katholischen Kirche vorstellt, bis zu den Chinesen Wang Quan'an und Zhang Yimou, der 1988 unter Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln mit »Rotes Kornfeld« Berlinale-Gewinner war und den Vorhang zur Volksrepublik aufgerissen hatte. Überhaupt scheint China derzeit besonders fleißig zu sein: Das Land beschickt die verschiedenen Festivalsektionen mit rund zehn Filmen. 

Deutschland bewirbt sich mit drei Produktionen um die großen Preise. Fatih Akin, der 2004 mit »Gegen die Wand« den Goldenen Bären gewann, hat einen Roman von Heinz Strunk verfilmt; in »Der goldene Handschuh« geht es um Fritz Honka, der in den Siebzigern in Hamburg mehrere Frauen ermordete. Angela Schanelec, eine Protagonistin der Berliner Schule, erzählt in »Ich war zu Hause, aber« von einem Schüler, der für eine Woche spurlos verschwindet; »Systemsprenger«, ein Drama um ein unangepasstes Mädchen, ist das Langfilmdebüt von Nora Fingscheidt.

»Der goldene Handschuh« (2019). © Warner Bros. Pictures

Gefährdete Familien, verlorene Kinder, Frauenhass, Missbrauch – viele Filme im Wettbewerb begeben sich in die Mikrostrukturen gesellschaftlicher Konflikte. Dieter Kosslick hat darum als Motto einen Leitsatz der »Zweiten Frauenbewegung« aus den späten sechziger Jahren ausgegeben: »Das Private ist politisch.« Dazu passt die durchaus typische starke »Geschlechterpolitik« des Festivals. Acht Wettbewerbsbeiträge stammen in diesem Jahr von Regisseurinnen, darunter bewährte Kräfte wie die Polin Agnieszka Holland, die Spanierin Isabel Coixet und die Französin Agnès Varda (außer Konkurrenz). Die französische Schauspielerin Juliette Binoche steht einer paritätisch besetzten Jury vor. Die Retrospektive zeigt unter dem Titel »Selbstbestimmt« Filme deutscher Regisseurinnen von 1968 bis 1999; Hommage und Ehrenbär sind Charlotte Rampling gewidmet. Und das Thema #metoo, das im letzten Jahr das Festival beschäftigt hat, ist auch nicht vom Tisch.

Im Hauptprogramm praktisch abgemeldet ist der Very Big Player im Filmgeschäft. Hollywood wird einzig von Adam McKays Politsatire »Vice – Der zweite Mann« vertreten, die außer Konkurrenz läuft und am 21. Februar schon bei uns im Kino startet. Zu schlechter Laune hat dieses »Glamour-Gap« bisher nicht geführt: Zwischen dem Abschied eines Festivalleiters, der die Berlinale geprägt und zu einem beim Publikum enorm beliebten Event gemacht hat, und dem Aufbruch in eine neue Ära scheint milde Stimmung zu herrschen. 


Isabel Coixet über »Elisa & Marcela« (OV)

Und wohin geht die Reise? Wieland Speck und Christoph Terhechte haben bereits 2017 und 2018 die Chefsessel der beiden anderen wichtigen Berlinale-Sektionen Panorama und Forum geräumt; im Panorama regiert eine Dreiergruppe, das Forum wird in diesem Jahr kommissarisch geleitet. Es gibt also viel Spielraum für eine Neuordnung, eine Schärfung der jeweiligen Profile. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat in der letzten Woche im Interview mit der »b.z.« über eine Verlegung des Festivaltermins nachgedacht und sich in der Frage der Streamingdienste, die in Cannes und Venedig für große Debatten gesorgt hatte, positioniert: Ein Kinostart, bestätigte sie die bisherige Haltung der Berlinale, sei für einen Film, der auf einem dem Kino gewidmeten Festival laufen soll, unerlässlich. In den aktuellen Wettbewerb hat sich zwar mit Isabel Coixets »Elisa & Marcela« ein Beitrag eingeschlichen, der vom Streaminggiganten Netflix vertrieben wird – das Drama in modischem Schwarzweiß soll aber in Spanien im Kino laufen, bevor es bei Netflix ausgestrahlt wird. Nochmal davongekommen.

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