Schöner Wildwuchs

»Fuocoammare« (Fire at Sea) Goldener Bär. Die Darstellerin und der Regisseur mit ihren Bären.

Für einen großen Wettbewerb hat es an ein, zwei Meisterwerken gefehlt. Aber langweilig war es nie. Der Hang zum visuell sparsamen, herben, realistischen Kino, der sich unter der Leitung von Dieter Kosslick als Berlinale-Stil ausgeprägt hat, ist endgültig gebrochen. In diesem Jahr wirkte die Mischung in der Gesamtschau wild, fast experimentell – als ob jemand die schwergängigen Türen im Berlinale-Palast aufgerissen und den Laden durchgelüftet hätte.

Die Hauptsektion flottierte munter vom literaturtrunkenen Biopic (»Genius« von Michael Grandage) zum zärtlichen französischen Coming-Out-Drama (André Téchinés »Quand on a 17 ans«), von der gerappten Klassiker-Adaption (Spike Lees »Chi-Raq«, außer Konkurrenz) zum psychedelischen Pop-Polit-Pastiche (Mani Haghighis »A Dragon Arrives!«), von der hysterischen Handkameraorgie zur fast statischen Inszenierung in prachtvollem Schwarzweiß. Auch bei den Themen – eine angenehme Vielfalt.

»A Dragon Arrives!« (2016). © Abbas Kosari

Natürlich kommt der Berlinale-Wettbewerb am politischen Tagesgeschehen nie vorbei. Migration, die Folgen der Revolten und Kriege in den arabischen und den Balkanstaaten standen auf der Agenda und wurden in »Soy Nero« von Rafi Pitts, »Death in Sarajevo« von Danis Tanović (Großer Preis der Jury) oder dem tunesischen Beitrag »Hedi« von Mohamed Ben Attia (Silberner Bär für den Schauspieler Majd Mastour) redlich, im Fall von Tanovićs flotter Geschichtsfarce: satirisch zugespitzt abgearbeitet. Mit »Fuocoammare« (Feuer auf See) hat die Jury unter dem Vorsitz von Meryl Streep aus dieser Reihe wenig überraschend, aber zielsicher den Film ausgewählt, der für sein Thema – die Situation auf der Mittelmeerinsel Lampedusa, wo im Laufe der Jahre 450.000 afrikanische Flüchtlinge gestrandet sind – die schlüssigsten Bilder findet. Der reflektierte Dokumentarfilm wurde mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet; auch die Ökumenische Jury entschied sich für diesen Wettbewerbsbeitrag.

»Fuocoammare« machte klar, dass die Unterscheidung von politischem und ästhetischem Kino eigentlich Unfug ist – in der Regel dient sie nur dazu, das formal Hilflose vom Gelungenen zu unterscheiden. Die meisten Filme gingen in diesem Jahr in den klassischen Kategorien nicht auf. Und die Jury hat dem Wildwuchs Rechnung getragen.

»Fuocoammare« (2015)

»L'avenir« zum Beispiel, für den Mia Hansen-Løve den Regie-Bären bekam, kann man wirklich nicht als Politfilm bezeichnen. Die Geschichte fängt als etwas verschmockte Studie des gehobenen französischen Linksintellektuellen-Milieus an, mit Isabelle Huppert als Gymnasiallehrerin, die geschäftig in Papieren blättert und immer einen Philosophen zutage fördert, den man gelesen haben muss. Dann aber wandelt sich der Film, für den die Kritiker reflexhaft einen Bären gefordert hatten – Hansen-Løve ist sehr hip –, zum mitfühlenden Porträt einer Frau, die in der zweiten Lebenshälfte auf eine denkbar konventionelle und gerade deshalb unheimliche Weise aus allen sozialen Zusammenhängen gerissen wird: als ob es etwa ein Naturgesetz gäbe, das Ehemänner jenseits der Fünfzig zum Fremdgehen mit Jüngeren zwingt. Ähnlich angelegt ist die Rolle, die die großartige Trine Dyrholm in Thomas Vinterbergs »Kollektivet«, einer sinn- und haltlosen Abrechnung mit den Kommunarden- oder eher WG-Idealen der Siebziger, spielt. Mit dem Unterschied, dass Vinterberg seine Protagonistin in jeder Einstellung verrät. Den Preis für die Beste Darstellerin hat Dyrholm gegen ihren Regisseur erarbeitet.

»L'avenir« (2016)

Der Film, der die neue Freiheit des Wettbewerbs am grellsten annoncierte, war »A Lullaby for the Sorrowful Mystery« von dem philippinischen Ausnahmeregisseur Lav Diaz. Was nicht heißt, dass es ein greller Film wäre. Das »Wiegenlied«, in irritierendem 4:3-Format und Schwarzweiß gedreht, ist eine mehr als achtstündige Beschwörung philippinischer Geschichte und Mythologie, unterlegt vom Sound des Dschungels, voller Redundanzen – ein Werk, das jeden Kinobetrieb zum Erliegen bringt und als Videoinstallation im Museum prima aufgehoben wäre. An diesem Monolithen kam die Jury nicht vorbei, es gab den Alfred-Bauer-Preis für einen »Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet«.

Meditativ wie »Lullaby«, aber weniger auf Größe aus und am Ende stimmiger war der chinesische Wettbewerbsbeitrag »Crosscurrent« von Yang Chao: eine geisterhafte, achronologische Reise von Shanghai zu den Quellen des Jangtsekiang, auf den Spuren eines Schiffers und einer schönen Sirene. Flotten von Lastkähnen auf einem Fluss ohne Ufer, die ragenden Schleusentore des Drei-Schluchten-Staudamms und verlassene, wie vom Pilz befallene Dörfer in einem graublaugrünen Ambiente: Der Film setzt den mit der Industrialierung Chinas verbundenen Ruin in reines Bildgeschehen um (Kameramann Mark Lee Ping-Bing bekam den Preis für eine »Herausragende Künstlerische Leistung«). Am Ende hat man eine fast physische Erfahrung gemacht, ist man in eine ferne Welt entführt worden, die doch auch als eigene erkennbar ist – die eine, in der wir alle leben. Ideal, wenn ein Festival solche Trips ermöglicht.

»Being 17« (2016). © Luc Roux

Die Preise spiegelten die schräge Mischung, dieses Berlinale-Masala; sie regneten auf alle, die »Politischen« wie die »Ästheten«. Løve bekam den Regie-Bären, Tanović den Großen Preis der Jury, Lav Diaz den Alfred-Bauer-Preis; der Tunesier Majd ­Mastoura zog mit dem Darsteller-Bären davon, »Crosscurrent« wurde für die Kamera (Mark Lee Ping-Bing) ausgezeichnet. Nur mit dem Drehbuch-Bären für den misogynen, manierierten und dialogarmen polnischen Film »United States of Love« lag die Jury daneben. Der hätte zum Beispiel an André Téchiné und Céline Sciamma gehen können, für das Coming-out-while-coming-of-age-Drama »Quand on a 17 ans«. Der Film erzählt von zwei Jungen, die in einer kleinen Gemeinde in den französischen Pyrenäen auf dem Weg zum Abitur sind. Beide sind einsam: Damien, Sohn einer Ärztin und eines Militärfliegers, wirkt auf seine Mitschüler intellektuell und hochmütig; Thomas stammt aus dem Maghreb und muss auf dem abgelegenen Berghof seiner Adoptiveltern anpacken. Die Annäherung der beiden ist ein von Schnee, Regen, Wind und Sonne umspielter, manchmal blutiger, manchmal zärtlicher Kampf, und queerness nicht nur eine Frage der sexuellen Orientierung, sondern auch der Bildungschancen, der ethnischen und sozialen Situierung. Überfrachtet? Merkt man gar nicht mehr, wenn Thomas im Finish über einen Bergkamm stürmt, um Damien unter Bäumen in die Arme zu fallen. Schon auch schön, so ein klassisches Erzählkino.

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