Im Einklang

Zum Ende der Berlinale sitze ich in der Regel zusammen mit einigen Kollegen in einer Radiosendung von France Culture, die Michel Ciment moderiert. Die Gesichter und Rituale ähneln sich. Zunächst werden wir zu dem Eindruck befragt, den dieser Festivaljahrgang generell auf uns gemacht hat. Da fängt die Diskussion bereits an, lebhaft zu werden, denn von Ärgernissen hat jeder zu berichten. Sodann konzentriert sich das Gespräch auf den Wettbewerb. In dieser Phase prallen oft gegensätzliche Vorstellungen vom Kino aufeinander; in der Skepsis gegenüber Kosslicks Vorliebe fürs Themenkino herrscht jedoch generell cinéphile Eintracht. Selten war unsere Runde so sehr zu Scherzen aufgelegt wie in diesem Jahr, was eher nicht für die Qualität der diesjährigen Auswahl spricht.

In der Schlussrunde sind wir angehalten, auf einen Film aus einer der anderen Sektionen hinzuweisen, der uns besonders beeindruckt hat. Da sich unsere Geschmäcker und Interessen stark unterscheiden, kommt dabei meist ein bunter Strauß der Empfehlungen heraus. Spätestens diese Phase bringt mich in Verlegenheit, denn nie habe ich im Forum oder Panorama genug gesehen, um mir ein Urteil zu erlauben. Ich weise dann meist auf die Retrospektive hin, was meine weitaus neugierigeren Kollegen mit gnädigem Schweigen quittieren. Diesmal jedoch suchte ich mir einen Film aus der Sektion "Berlinale Special" aus, von dem ich annahm, dass ihn kein anderer auf seiner Tanzkarte hatte. Weit gefehlt: Wir alle waren uns einig, dass Torneranno i prati (Greenery will bloom again) von Ermanno Olmi eines der herausragenden Ereignisse des Festivals war. Keiner von uns konnte verstehen, weshalb er nicht im Wettbewerb lief.

Der jüngste und vielleicht letzte Film des Regisseurs von Der Holzschuhbaum hätte ihn zweifellos geziert, auch wenn ihm schwerlich aktuelle Relevanz unterstellt werden kann. Starke Frauen kommen in ihm nicht vor; er erzählt von einer einzigen Nacht in einem Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Der Schauplatz ist ungewöhnlich: Der Film trägt sich im winterlichen Gebirge zu, wo von der Natur nur trotzige Spurenelemente - ein kahler Baum, ein streunender Fuchs - übrig geblieben sind. Der Tonfall ist gedämpft, es wird fast nur geflüstert in diesem bescheidenen, lyrischen Kammerspiel. Es liegt große Zärtlichkeit in der Art, wie die Dialoge gesprochen werden. Der Gesang der Soldaten ist lauter als der ferne Lärm der Geschütze, es dauert eine halbe Stunde, bis an dem Schauplatz selbst der erste Schuss fällt. Auch die Farbe ist diesem Glanzstück des atmosphärischen Erzählens weitgehend entzogen, nur einmal setzt der brennende Baum einen lodernden Akzent im Monochrom. Olmis Film wirkt entrückt wie eine ferne Erinnerung, die jedoch vor den Augen des Zuschauers konkrete Gestalt annimmt. Er ist dem Vater des Regisseurs gewidmet, der ihm viel von dem Krieg erzählt hat, den man in Italien nicht gern den Großen Krieg nennt.

Das Verschwinden, auch der Erinnerung, ist sein eigentliches Thema. Nach dem Krieg kehren alle wieder heim, heißt es einmal, frisches Gras wird über den Schlachtfeldern wachsen. Von dem Leiden wird nichts mehr bleiben: als ob es nie existiert hätte. Wäre der Vergleich nicht taktlos gegenüber den Opfern des Krieges, könnte man darin eine Metapher für die Berlinale entdecken.

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