Ich bin keine Erscheinung

Im Februar 1989 hatte ich doppeltes Glück. Das erste bestand darin, dass ich einen Interviewtermin mit der Schauspielerin Delphine Seyrig bekam und das zweite darin, dass sie viel Geduld mit meinen Fragen hatte.

Sie war zur Berlinale gekommen, um ihren dritten Film mit Ulrike Ottinger vorzustellen, „Johanna d' Arc of Mongolia“. Dass sie für Interviews zur Verfügung stand, war für mich die Erfüllung eines Traums, von dem ich nicht wusste, wie glühend ich ihn tatsächlich hegte. Ich ging zu dem Termin wie zu einer Audienz. Nicht nur, weil sie eine Legende war. Mich hatte in den Interviews, die ich zur Vorbereitung las, vor allem beeindruckt, wie präzise, kritisch und wachsam sie ihr eigenes Metier betrachtete. Durchschaute sie, dass viele meiner Kenntnisse nur angelesen waren? Bestimmt. Im Gegenzug spürte sie aber wohl, wie aufrichtig meine Begeisterung für ihre Darstellung in „Muriel oder die Zeit der Wiederkehr“ und anderen Filmen war. Ich glaube, kein Gespräch, das ich je mit einer Schauspielerin geführt habe, prägte mich so nachhaltig. Damals war die Krebserkrankung, der sie anderthalb Jahre später erlag, noch ein gut gehütetes Geheimnis.

Erst heute früh entdeckte ich, dass das Filmhaus Nürnberg ihr gerade eine Hommage widmet, die bereits am 27. Juni begann und noch bis zum Ende dieses Monats läuft. Wiederum eine Filmreihe der Nürnberger, die ein vielgestaltiges Werk repräsentativ abdeckt (https://www.kunstkulturquartier.de/filmhaus/programm/schwerpunkte/hommage-delphine-seyrig). Wie gestern bei Willi Forst ist eine künstlerische Handschrift vor und hinter der Kamera zu entdecken: Es sind nicht nur ihre Filme mit Akerman, Bunuel, Demy, Duras, Truffaut und natürlich Resnais zu sehen, sondern auch eigene Regiearbeiten. Sie war Mitgründerin des feministische Videokollektivs „Les Insoumuses“, in dessen Name sich Muse und Ungehorsam griffig paarten, um mit einer neuen Technik gegen alte Vorurteile zu kämpfen.

Die Begegnung mit ihr war ein Bildungsabenteuer. Sie war in persona eine ebenso so elegante Erscheinung, wie ich sie von der Leinwand kannte. Sie trug die obligatorische Sonnenbrille, die eine gewisse Distanz herstellte. Vielleicht diente sie auch dazu, sie vor meinem männlichen Blick – ich war schüchtern empfänglich für ihre Schönheit – abzuschirmen. Aber bald stellte sie eine Komplizenschaft her mit ihrem beherzten, aber skeptischen Lachen und der Offenheit, mit der sie über Regisseure sprach. Sie konnte ihre Inszenierung bis ins Detail analysieren. Nach einer Weile ließ ihre Nachsicht mit meinen Fragen nach und irgendwann drehte sie den Spieß um. Zu meiner großen Überraschung steht die Fassung des Gesprächs, die ich in der „taz“ veröffentlichte, noch im Netz: https://taz.de/Das-kritische-Alter-mein-Lieber/!1815793/ Sie wurde etwas gekürzt; nach Seyrigs Tod erschien der komplette Text im schweizerischen „filmbulletin“. In einer für die „tageszeitung“ zu langen Passagen berichtete sie unverblümt, welch zwiespältige Erfahrung die Arbeit an „Der Schakal“ und „Die schwarze Windmühle“ für sie waren: Fred Zinnemann und Don Siegel seien zwar sympathisch gewesen, aber sobald die Kamera lief, spürte sie eine gewisse Grausamkeit, eine einschüchternde Kälte, die einherging wohl mit der Maschinerie solcher Großproduktionen.

Ihr Engagement als filmende Feministin bezeichnete Seyrig einmal als Vergeltung für ihre Karriere. Das klingt auf Anhieb überraschend aus dem Mund einer Schauspielerin, die zum Serail des europäischen Autorenkinos gehörte. Durch ihren Auftritt in Resnais' „Letztes Jahr in Marienbad“ wurde sie 1961 zu einer Ikone der filmischen Moderne. Vor der Kamera war sie nie ein Sexsymbol: Ihr Blick war immer tiefer als ihr Dekolleté. Ein Kassenmagnet war sie ebenfalls nie, aber dennoch ein Star und auch in Nebenrollen immer ein Ereignis. Der Durchbruch mit „Marienbad“ entschied freilich über Wohl und Wehe ihrer Karriere. Sie haderte damit, dass ihr fortan das Image der mondänen, in elegante Roben gehüllten und stets mysteriösen Frau anhaftete. Sie verzweifelte an der Phantasielosigkeit von Regisseuren und Produzenten. Auf der Bühne jedoch konnte sie zeigen, wie breit ihr Ausdrucksspektrum war. Sie brillierte im klassischen Repertoire und entdeckte zugleich Gegenwartsautoren wie Pinter, Stoppard, Handke und Fasssbinder für sich.

Das gelang ihr mühelos, da sie dreisprachig aufgewachsen war. Sie wurde 1932 in Beirut geboren, ihr Vater war Archäologe, die Mutter Publizistin. Es muss eine kunstsinnige Familie gewesen sein (Bruder Francis war Komponist und schrieb unter anderem die Partitur zu „Marienbad“), die ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden, keine Steine in den Weg legte. Sie studierte in Paris, wo Philippe Noiret und Michel Lonsdale zu ihren Kommilitonen zählten. Letzterer fand, ihre Stimme klinge wie ein Violoncello. In New York setzte sie ihre Ausbildung am Actors' Studio unter Lee Strasberg fort. Dort kam sie mit der Avantgarde in Kontakt, mit Malern wie Jasper Johns, Robert Rauschenbach und Ellsworth Kelly. Ihr Kinodebüt feierte sie 1959 in „Pull my Daisy“ von Robert Frank, an dem Jack Kerouac mitwirkte. Sie setzte sich neuen künstlerischen Strömungen aus, ihre kreative Neugier war unstillbar. Man begreift, weshalb sie ihr Image als glamouröse Diva als ein Gefängnis begriff.

Seyrig war die erste Schauspielerin, die mir erzählte, dass sie für jede Figur eine back story erfand, für sie eine eigene Biographie entwarf. Das ist einerseits eine Lehre, die sie aus ihrer Zeit am Actors' Studio mitnahm. Mit jeder Geste, jedem Blick wird eine Erinnerungen wachgerufen, die Vergangenheit wiedergeboren. Bei Resnais greift sie oft die gleichen Bewegungen oder Haltungen – das Ruhen der Hand auf einem Treppengeländer, das versonnene Streichen über ihr Schlüsselbein - an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wieder auf. Ihr Spiel vibriert: Sie ist keine Statue, nimmt nicht nur Posen ein, die im Einklang mit den Dekors steht. Vielmehr vollzieht sie eine innere Bewegung der Figuren zwischen Einst und Jetzt nach. Es ist keine geringe Leistung, sich als Schauspielerin in der rissigen, verwirrenden Montage der Filme zu behaupten. Seyrig schafft ihren Figuren eine eigene Präsenz, war mitnichten eine Schöpfung von Resnais.

In dem Entwurf einer jeweiligen back story manifestiert sich überdies etwas, das Seyrig in unserem Gespräch als eine Art von Autorenschaft formulierte: Jeder Schauspieler ist zugleich Filmemacher. Die Gestaltung vieler Rollen bestätigt das. So war sie beispielsweise partout nicht mit der Zeichnung der Fabienne Tabard in „Geraubte Küsse“ einverstanden, die in Truffauts Drehbuch angelegt war. Sie wollte sie nicht ernst spielen, nicht als traurige, unzufriedene Ehefrau, die nur mit dem jungen Antoine Doinel schläft, weil sie enttäuscht von ihrer Ehe ist. Nein, sie sollte eine glückliche Frau sein, die eben mit einem etwas sonderbaren Mann verheiratet ist. So klingt das schöne Bekenntnis, das Truffaut ihr auf den Leib schrieb, noch überzeugender: „Ich bin keine Erscheinung, sondern eine wirkliche Frau – und das ist das genaue Gegenteil.“

Bei „Blut an den Lippen“ schrieb sie nicht nur etliche ihrer Dialoge selbst, sondern griff auch in Harry Kümels Inszenierung ein: Die Ankunft der geheimnisvollen Gräfin im Hotel dauerte ihr zu lang - sie fand, dass müsse viel schneller montiert sein, wie der Auftritt von Marlene Dietrichs in „Engel“ von Ernst Lubitsch! Aber auch jenseits solch ungewohnter Interventionen bewahrt sie ihren Figuren stets Eigensinn. In „Muriel“ bricht sie unmittelbar mit dem Bild, das man seinerzeit aus „Marienbad“ noch frisch in Erinnerung hatte: Sie verkörpert eine Frau, die eine gehetzte Alltagsexistenz führt – eigentlich bereits eine Vorstudie zu „Jeanne Dielman“ -, sie agiert fahrig und wirkt auf wehmütige Weise kapriziös. Sie lässt nur flüchtige Momente der Nähe zu. In ihren großen Rollen erzählt Seyrig, wie ungreifbar das Glück ist. Wenn man genau hinschaut und zuhört, steht ihr Spiel schon in „Marienbad“ unter Vorbehalt. Ihre Gesten sind ganz auf den eigenen Körper bezogen; wenn sie eine Umarmung zulässt, ist das kein Versprechen der Hingabe. In ihrer Stimme klingt stets ein Flair von Nüchternheit an. Diese Schauspielerin arbeitete beharrlich an der Entzauberung des Bildes, das andere sich von ihr machen.

 

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