Eine Gärtnerin

An ihren frühen Filmen gefallen mir besonders die originellen Ideen, die ihnen als Ausgangspunkt dienen. Diese Originalität liegt auf Augenhöhe, sie besitzt menschliches Maß und ist leichtfüßig. Auch später gehen Digna Sinke die Ideen nicht aus, aber da hat sich ihre Neugier verwandelt, ist schwerer, gravierender geworden. Fangen wir ruhig einmal mit „Aan Vang Gogh an de muur“ (Ein Van Gogh an der Wand), den sie 1978 realisierte.

Dafür interviewte die Regisseurin rund zwanzig Mitbürger, in deren Wohnung eine Reproduktion von „Caféterasse am Abend“ hängt. Sie hatte sie aus einer Menge von 1350 Leuten ausgewählt, die auf einen Aufruf im holländischen Fernsehen bzw. auf Zeitungsanzeigen geantwortet hatte. Es war ein bunter Strauß - vielleicht kein absolut repräsentativer Querschnitt, aber Dokumentarfilmer müssen ja nicht immer Soziologen sein. Die Haltung, die die meist stolzen Besitzer zu Van Goghs Gemälde einnahmen, ließen sich aber auch nicht einfach nach Bildung oder Schicht unterscheiden. Unter den Befragten ist beispielsweise ein Student, der die falsche Perspektive und primitive Maltechnik kritisiert. Im Gegenzug findet ein junger Wehrpflichtiger die persönlichen Probleme des Malers in dem Bild wieder: Die Leere im Vordergrund und die in relative Ferne entrückten Figuren zeigten, wie einsam er sich gefühlt haben muss. Ferner kommen ein Restaurator, ein Maler von Reproduktionen und eine Hausfrau zu Wort, der es lieber ist, wenn man erkennt, was auf einem Gemälde abgebildet ist. Ein Besitzer liefert eine farbpsychologische Deutung: Introvertierte Menschen hätten eine Vorliebe für Gelbtöne. Eine Dame fragt sich angesichts der Nachtstimmung, ob Menschen heute überhaupt noch unter dem Sternenhimmel spazieren gingen?

Sinke porträtiert wie nebenbei lauter Individuen, aber zugleich entsteht der Gesamteindruck eines Landes, das einen Maler analysiert. Diese lebhafte Vielstimmigkeit ist ein Merkmal ihre dokumentarischen Arbeiten, in denen sie genau hinschaut, wie ihre Landsleute wohnen, leben und denken. Die Viennale widmet der holländischen Filmemacherin heuer eine „Monografie“ - so nennt Festivaldirektorin Eva Sangiorgi die Retrospektiven, die sie für zentrale, aber reichlich unbekannte Filmemacher ausrichtet. Bis zur Presseankündigung hatte ich nie von Digna Sinke gehört und kannte auch niemand, der je von ihr gehört hatte. Hier ist also ein kuratorischer Gerechtigkeitssinn im Spiel. Im schönen Katalogtext vergleicht Gerwin Tasma die Regisseurin mit einer Gärtnerin, die erst einmal schaut, was in der Umgegend wächst und gedeiht, um es dann in eine eigene Ordnung zu bringen.

Für ihren nächsten Film „De Hoop van het Vaderland“ (Die Hoffnung der Nation, 1982) wählt Sinke einen persönlichen Zugang. Sie interviewt lauter ehemalige und jetzige Schüler, die an der Schülerzeitung ihres Gymnasiums in Utrecht mitgewirkt haben. Eingerahmt sind die Gespräche von einer Zugfahrt, die sie (oder ein Alter Ego) mit einer Freundin dorthin unternimmt, auch dies eine vielstimmige Angelegenheit. Von Nostalgie muss hier nicht die Rede sein (sie steigt am Ende doch nicht in Utrecht aus), aber es geht schon um einstige Träume (zum Beispiel dem, selbst einmal Schriftstellerin zu werden), die mit dem jetzige Leben abgeglichen werden. Wiederum hat mich die Pluralität der Standpunkte und Erfahrungen fasziniert. Am Ende, das hat die Regisseurin sich zur Gewohnheit gemacht, verabschiedet sie sich von den Befragten, in dem sie sie allesamt noch einmal einzeln vor der Kamera posieren lässt.

In „Niets is vor de Eeuwigheid“ (Nichts währt ewig, 1990) rekapituliert sie den Strukturwandel in ihrer niederländischen Heimat. Ihr Ausgangspunkt ist die erste Keramikmanufaktur, die nun eine Ruine ist. Obwohl dies weitgehend ein Architekturfilm ist, wird das Werk der Zeit, werden die Verwerfungen des Arbeitsalltags, auch in Zeugnissen spürbar. Ein Arbeiter streift durch die alten Wohnviertel, die kaum noch wieder zu erkennen sind. Die Erinnerung an das, was einmal Alltag war, ist ein kardinales Thema ihres Werks. Verschmitzt buchstabiert sie es in dem Kurzfilm „Alle Dagen even mooi“ (Jeden Tag gutes Wetter, 2013) anhand von Ansichtskarten aus hundert Jahren durch, deren Inhalt verlesen wird. Zeit-, Design- und Freizeitgeschichte werden hier im Wandel greifbar, einige der Postkarten sind auch an Sinke und ihren Lebensgefährten René Scholten adressiert bzw. wurden von ihnen verschickt.

Diese Regisseurin erhebt Einspruch gegen die Vergänglichkeit. Sie will sich nicht einfach damit abfinden, dass nicht ewig währt. Dieser Impuls verleiht ihrem Spätwerk eine tiefe Melancholie. „Weemoed & Wildernis“ (Wehmut und Wildnis, 2010) steht schon mit dem Titel dafür ein. Das ist eine Langzeitbeobachtung und zugleich ein intimer Tagebuchfilm über Verlust, für den sie die Insel in Zeeland regelmäßig aufsucht, auf der sie aufwuchs. Aus dem Agrarland soll ein Naturschutzgebiet werden, wofür indes auch zahlreiche Bäume abgeholzt werden. Eine angeschlagene Pappel hält heroisch lange durch. Am stärksten berührt hat mich zweifellos „Bewaren of hoe te leven“ (Aufbewahren, oder wie man lebt, 2018). in dem sie die Schatztruhen ihrer Kindheit durchstöbert und ihre Mutter, die noch höchst kregel ist, zärtlich mit Erinnerungsstücken ihres Familie- und Ehelebens konfrontiert. Das Essbesteck des Vaters – war es wirklich so zierlich klein, oder hat es es noch aus seiner Kindheit behalten? Sinke selbst scheint eine ziemliche pack rat zu sein – in ihrem Souterrainbüro stapeln sich alte Zeitungen zu mächtigen Türmen. Aber um der Vielstimmigkeit willen erweitert sie ihren Radius über das Persönliche hinaus, weitere Sammler werden vorgestellt sowie ein adliger Kurator, der unter anderem die Korrespondenz des Königshauses konserviert. Besonders hübsch ist seine Erzählung vom Briefwechsel mit dem spanischen König Philip V, der aus Furcht vor Räubern und Piraten in vierfacher Ausfertigung auf unterschiedlichen Wegen transportiert wurde. Aber auch die „Gegenseite“ setzt Sinke ins Recht. Sie besucht einen amerikanischen Konkurrenten von Marie Kondo sowie einen Kongress von digitalen Nomaden, denen der Inhalt ihres Rucksacks zum Leben reicht.

Sinkes Spielfilme sind sehr schön, was eher selten vorkommt bei gelernten Dokumentarfilmern. Der bekannteste, „De stillle Oceaan“ lief 1984 im Wettbewerb der Berlinale, ist in Wien jedoch nicht zu sehen. In „Boven de Bergen“ (Über den Bergen, 1992) handelt von einem reichlich heterogenen Freundeskreis, der durch Holland wandert, um dort einen Dschungel und sogar einen Berg zu suchen. Sie werden tatsächlich fündig, kommen einander aber auf dem Wege abhanden. „Belle van Zylen – Madame de Charrière (1993) ist ein waschechter, aber gar nicht behäbiger Kostümfilm, das konzentrierte Biopic über eine frühe Feministin vor dem Hintergrund von Aufklärung, Französischer Revolution und Romantik. Konzentriert ist er insofern, als im Mittelpunkt die Liebesfreundschaft der Titelheldin zu dem sprunghaften Benjamin Constant steht, aber der Plurailtät wird gleichwohl Genüge getan.

Ich hoffe, dass die Retrospektive von Wien aus auf Wanderschaft geht. Digna Sinkes Filme sind eine unverhofft innige Entdeckung für mich. Heute früh besuchte ich ihre Website (https://www.dignasinke.nl/), die in Bildern und Worten (auch in englischer Sprache einen prächtigen ersten Eindruck vom Werk dieser unbesungenen Protagonistin des europäischen Kinos vermittelt, die ihrer Neugier und Phantasie stets auf eigene Rechnung folgt. Ich hätte Stunden mit dem Lesen ihrer Filmnotizen verbringen können. Aber irgendwann muss man ja auch selber schreiben. Deshalb nur ein Beispiel als Appetithäppchen: Sie war verblüfft, dass sich auf die Zeitungsanzeigen für das Van-Gogh-Projekt nur 30 Leute meldeten, auf den Fernsehaufruf jedoch über 1300. Das Kleine und das Große – wie es zusammenkommen kann, davon handeln auch ihre Filme.

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