Das Abenteuer des Unergründlichen
Das Licht ist ein kostbares Gut in ihren Filmen. Oft bildet es nur kleine Inseln im Dunkel. Aber je größer der Mangel ist, umso wärmer wirkt sein Schein. Er hilft bei der Orientierung im Raum - nicht nur der topographischen, auch der atmosphärischen. Er bietet Anhaltspunkte, auch dies zweifach: biographisch und emotional.
Ein gutes Auge allein reicht nicht, um sich in den Welten zurechtzufinden, die Lucile Hadzihalilovic eröffnet. Dafür sind sie zu geheimnisvoll. Und meist weigern sie sich auch standhaft, die aufgegebenen Rätsel zu lüften. Sie mutet ihrem Publikum zu, die Erklärungen selbst zu finden. Es könnte freilich ebenso gut sein, dass sie insgeheim hofft, Zuschauerinnen und Zuschauer würden nicht nach ihnen suchen. Vielleicht gefällt es ihr bereits, dass sie sich mit offenen Sinnen in ihre Filme hineinwagen und sich auf ein tiefes Erlebnis gefasst machen.
Es nimmt nicht wunder, könnte man nun sagen, dass sich für ihre drei ersten Regiearbeiten hier zu Lande keine Verleiher gefunden haben. Schwer zu bestimmen, wie groß das Publikum für sie gewesen wäre. Sie fordern eine gewisse Furchtlosigkeit, denn es sind Abenteuerfilme des Sehens, Hörens und Begreifens. Umso mutiger war es deshalb, das die Berlinale den vierten Film einer Regisseurin in den Wettbewerb nahm, die bislang für die meisten nur ein Gerücht war. Nicht weniger mutig ist der Verleih, der im Dezember nun "La Tour de Glac" (Herz aus Eis) in unsere Kinos bringt. Diesem schönen Umstand ist womöglich auch die Werkschau zu verdanken, die im Rahmen der französischen Filmwoche zu sehen ist. Ab Sonntag, dem 23. November, läuft im City Kino Wedding die Retrospektive "Erkundungen des Unbewussten" , die das Arsenal ausgerichtet hat, welches sich noch immer on location befindet. Ein weiterer schöner Umstand ist (zumindest für Berliner Kinogänger), dass die umtriebigen Nomaden beinahe zeitgleich in der Brotfabrik einen Blick in die "Filmische Wunderkammer" von Jan Svankmajer gewähren. Zwe visionäre Außenseiter, die sich gut vertragen.
Vor vier Jahren, in dem Eintrag "Transgenre 2" vom 8. 10, 2021, habe ich schon einmal auf diese außergewöhnliche Filmemacherin hingewiesen. Damals stellte ich ihre ersten beiden Filme, "Innocence" und "Evolution" , in den Kontext weiblicher Horrorfilme. Der Hinweis fiel sträflich knapp aus, es war kein Platz, um das Faszinosum zu erfassen, das meine erste Begegnung mit "Innocence" vor gut 20 Jahren darstellte. Das war ein Film wie kein anderer, ich spürte rasch, dass ich es mit einem der großen Solitär zu tun hatte, einem Mysterium, auf das man sich mit höchsten Gewinn einlassen konnte. Das Drehbuch lehnt sich an eine ziemlich entlegene Novelle von Frank Wedekind an, erzählt aus der Sicht des Neuankömmlings Iris vom Alltag in einem Mädcheninternat, das in einem undurchdringlichen Wald verborgen ist. Sie wacht in einem Sarg auf, findet sich jedoch von durchaus lebendigen neuen Kameradinnen umringt, die sie als eine der ihren aufnehmen werden. Iris wird in geheimnisvolle Regeln eingeweiht, etwa den Farbcode der Haarschleifen, in dem sich die Altershierarchie der etwa sechs- bis zwölfjährigen Mädchen manifestiert. Ausgelassenes Spiel und strenge Pflichterfüllung wechseln einander ab. Ein Gefühl furchtsamer Erwartung wird einen bis zum Ende des Films nicht mehr verlassen. Eine allzu idyllische Klarheit herrscht in den Bildern, deren warmen, satten Farben man nicht trauen mag. Diese Furcht ist unbestimmt, aber nicht namenlos. Das Ambiente löst unweigerlich Assoziationen zu Märchenmotiven aus.
Die Ankunft der Neuen in einem Holzsarg ließe auf eine jenseitige Welt schließen; dass viele Szenen mit dem Aufwachen beginnen, legt die Realitätsebene einer Traumwelt nahe. Worauf die Schülerinnen vorbereitet werden, erschließt sich nicht ohne weiteres; sie werden wohl an eine traditionelle Mädchen- bzw. Frauenrolle herangeführt. Auf dem Lehrplan scheinen nur zwei Fächer zu stehen, Ballett und Biologie. Beides kommt zusammen, als die Elevinnen einen Tanz aufführen, in dem sie sich als Schmetterlinge entpuppen. Nach der Darbietung erklingt zum ersten Mal eine männliche Stimme aus dem unsichtbaren Publikum; bis dahin und auch wieder danach befinden wir uns in einem exklusiv weiblichen Kosmos. Der Kamerablick schließt sich ganz der Wahrnehmung der Mädchen an, ihre unbedingten Entdeckerfreude. Sie sind noch in einem Vorstadium der Sexualität, erst später kündigt sich einmal zart die Möglichkeit einer erotischen Erfahrung des eigenen Körpers an.
Die Mädchen werden auf eine mulmig unbestimmte Außenwelt vorbereitet. Es wird indes von ihnen erwartet sich so zu benehmen, als existiere sie nicht. Ihre Erinnerungen an das Vorleben erlöschen; es wird nie wieder erwähnt. Der Vorhang vor der anderen Welt darf nicht gelüftet werden. Über jene Schülerinnen, die versucht haben, die Grenze zu überschreiten ist ein Tabu verhängt. Die Anordnungen der Lehrerinnen sind unerbittlich."Innocence" ist als Parabel auf die Erziehung als einem totalitären System lesbar, das unbedingten Gehorsam verlangt und die Schülerinnen der Natur entfremdet. Der Schrecken läge eventuell weniger in der Unentrinnbarkeit der Situationen, sondern der Passivität, mit der Mädchen sie hinnehmen. Hadzihalilovic bewahrt den Bildern und Situationen stets eine irritierende Vieldeutigkeit. Die Welt ihres Films mag symbolgefügt erscheinen, entschlüsseln muss man diese Symbole deshalb noch nicht unbedingt. Die Regisseurin lotet mythische und psychologische Erzählebenen nicht letztendlich aus, die Offenheit der Erzählung erschöpft sich nicht im Gleichnishaften. Sie beharrt auf einer Autonomie der atmosphärischen Evidenz.
Dies ist keine Strategie der bloßen Verrätselung. Das Klima des Befremdlichen, Unergründlichen lässt sich herleiten: Es verdankt sich zum Gutteil der Ordnung, die die Erwachsenenwelt errichtet. Erstaunen und Verstörung sind mithin nicht nur angemessene, sondern würdige Zuschauerreaktionen. Denn "Innocence" handelt von drängendsten Frage der Kindheit: Was wird passieren? Die Coda von "Innocence" ist eines der verblüffendsten Filmenden, die ich kenne; es ist unfassbar euphorisch und befreiend.
Seit dem Eintrag, den ich vor vier Jahren schrieb, habe ich auch "Earwig" gesehen, der in vieler Hinsicht an Hadzihalkilovic' Erstling anknüpft. Diesmal geht es um ein einziges Mädchen, das in furchtbarer Abgeschiedenheit lebt, nun einem verwunschenen Schloss irgendwo in Belgien. Der Eindruck aus "Evolution", dass hier ein Kinderleben zugerichtet wird, setzt sich ebenfalls fort. Der Zahnschmelz der kleinen Mia löst sich unablässig auf und muss durch eine Art Eigentransfusion täglich erneuert werden. Die Sprache scheint ihr nicht zu Gebot zu stehen, aber ihr Summen verrät, dass sie ihrer streng überwachten Existenz kleine Freuden abzutrotzen versteht. Dekors, Kostüme und Requisiten weisen wiederum darauf hin, dass die Geschichte in einer vagen Jahrhundertmitte angesiedelt ist. Das Drehbuchmotiv der Passage, des Heranwachsens als Parcours, hat sich hier gewandelt. Der Film folgt auch dem Wächter Mias, was als eigener Erzählstrang in eine verblüffende Parallelität mündet, in der Blicke und Gebärden eine telepathische Verbindung eingehen.
Der Impuls von Flucht und Befreiung, der sonst am Ende von Hadzihalilovic' Geschichten steht, ist in "Herz aus Eis" jetzt Ausgangspunkt. Jeanne ist in Waisenhäusern aufgewachsen und lebt bei einer Pflegefamilie. Das ist keine Haft, auch wenn es streng zugeht. Eines Tages bricht sie auf ins Ungewisse, lässt ihre kleine Freundin Rose zurück, nicht aber den Wunsch nach Zugehörigkeit. Er könnte sich erfüllen, als sie sich in ein Filmstudio hineinstiehlt, wo eine Adaption von Andersens "Schneekönigin" gedreht wird. Die winterliche Bergwelt (gedreht in Tirol) ist wiederum der Gegenwart entrückt, nun liefern die 1970er das Zeitkolorit. Hadzihalilovic hält das Staunen vergangener Epochen wach.
Eigentlich folgt Jeanne dem Lockruf des Märchens, aus dem sie Rose vorlas. Sie ist fasziniert von der tyrannischen Hauptdarstellerin (Marion Cotillard, die bereits in "Innocence" mitspielte, aber damals noch kein Star war) und unternimmt alles, um in ihre Nähe zu kommen. Die Zwei gehen ein schleierhaftes Tauschgeschäft miteinander ein, das zwischen Verschmelzung und Abweisung schillert. Im Kern ist dies ein Film über Spiegelungen; sein ursprünglicher Blick erkundet, wie sich Licht und Konturen in einem Prisma brechen. Dabei vollzieht sich in ihm eine enorme Wandlung, Hadzihalilovic gibt ihrem Kino eine neue Ausrichtung, Jetzt erhalten die Charaktere eine back story, in den Dialogen artikuliert sich ein psychologischer Zugriff. Konventioneller ist "Herz aus Eis" deshalb noch lange nicht geraten, wohl aber gibt dieser Abenteuerfilm der Sinne seine Absichten eine Spur deutlicher zu erkennen als die vorangegangenen.



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