Von einer Weise

In »Die Ruhelosen«, der in dieser Woche anläuft, geht es darum, wie man mit der Unwägbarkeit lebt. Die manischen Schübe Damiens, die seine Familie erschüttern, bestimmen die Dramaturgie des ersten Teils, im zweiten überwiegen die depressiven Episoden. Warum nennt man diesen Zustand heute bipolar? Der alte Begriff klang noch nach einer Krankheit, der neue nach Geometrie.

Es gibt gute Gründe, weshalb sich die Blicke in Joachim Lafosse' Film ganz auf Leila Bekhti, Damien Bonnard und den kleinen Gabriel Merz Chammah (dessen Rollenname offenbar Amine lautet, da muss ich meine Kritik in der aktuellen Ausgabe korrigieren) konzentrieren. Aller drei sind hervorragend und der Film erzählt vor allem ihre Geschichte. Aber dabei entgeht dem Blick etwas Wesentliches: Damiens Vater, den Patrick Descamps verkörpert. Er tut dies ganz in der englischsprachigen Begrifflichkeit: als supporting actor, als unterstützender Schauspieler. Der Vater ist ist die Ausnahme im Plural des Titels. Er ist da, wenn er gebraucht wird, ein Fels, vielleicht nicht unerschütterlich, aber besonnen und zuverlässig. Er scheint in sich zu ruhen. Oder, damit die Geometrie doch zu etwas gut ist: Er ist der ruhende Pol des Films.

Der belgische Schauspieler ist ein Fachmann dafür. Die Beherrschtheit ist sein darstellerisches Mandat. Über Jemand, dessen Stimmungen nicht zu schwanken scheinen, sagt man in Westfalen gern, er sei „von einer Weise.“ Im Falle der Figuren, die Descamps verkörpert, ist das nicht unbedingt ein Zeichen von Ausgeglichenheit. Man spürt, dass es in ihnen brodelt, aber sie verlieren kein Wort darüber. Im Kino ist er – auf der Bühne, wo er eine enorme Karriere gemacht hat, wird das anders sein – kein Typ für Monologe. Was wir über seine Charaktere erfahren sollen, teilt uns oft bereits sein Blick mit.

Sie haben ihn bestimmt schon vorher mal gesehen, vielleicht an der Seite von Francois Cluzet in »Der Retter« und »Der Landarzt von Chaussy«. In rund 100 Filmen und TV-Serien ist der franko-belgische Grenzgänger seit 1994 aufgetreten. Sie kamen also praktisch gar nicht an ihm vorbei. Er ist ein Bär von einem Mann. Der erste Eindruck, den er erweckt, ist der einer immensen Schroffheit. Jedoch macht er kein Aufheben um sich, steht verlässlich in der zweiten Reihe und taucht in den Besetzungslisten an frühestens vierter Stelle auf. Er gehört zum Ensemble der Filme, gleichsam zu ihrer Ausstattung. Keiner darunter, der nicht durch sein Auftauchen reicher geworden wäre.

Es gibt SchauspielerInnen, denen sieht man sofort an, dass sie großartig sind: noch bevor sie einen Satz gesagt oder sich bewegt haben. Descamps ist ein solcher Meister der Präsenz. Das ist auch ein Geschenk des Alters. Die Spuren des Lebens haben sich in seinem Gesicht und Körper abgelagert. Er hat tiefe Ringe unter den Augen, seine Haare sind schon seit vielen Jahren schütter und er ist von redlicher Leibesfülle. Schwer vorstellbar, dass seine Figuren sich gesund ernähren würden. Sie gehören meist einem Milieu an, in dem man sich über so etwas keine Gedanken macht. Ihr Leben stellt andere Forderungen. Um Moden scheren sie sich nicht; sie sehen aus wie die Männer aus den Generationen vor ihnen. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je ohne seinen Vollbart gesehen zu haben, der wahrscheinlich schon immer graumeliert war.

Zuerst habe ich ihn wohl 2002 als Drogenhändler in Lucas Belvaux' Trilogie (»Ein tolles Paar«, »Auf der Flucht«, »Nach dem Leben«) gesehen, wo er angemessen bedrohlich wirkte. Gut Kirschen essen ist mit wenigen seiner Figuren. Wirklich aufgefallen ist er mir aber erst in Belvaux' folgendem Film, »La Raison du plus faible« (Das Recht des Schwächeren), der bei uns nicht herauskam. Da gehört er zu einer Truppe von Lebensverlierern, die einen Coup planen, der ihnen über die Köpfe wächst. Im selben Jahr, 2006, spielt er zum ersten Mal bei Lafosse, in »Nue proprieté«. Da ist er der Vater der Zwillinge, den Isabelle Huppert aus deren und ihrem Leben verbannt hat. Ich glaube, er hat nur eine Szene, aber aus ihr macht er ungeheuer viel. Wie verletzt oder zornig sie sind, lassen sich Descamps' Charaktere selten anmerken. Sie fressen viel in sich hinein.

Allerdings tragen sie immer einen Groll mit sich herum. Besonders in Väterrollen verleiht er der Missbilligung einen großen Nuancenreichtum, beispielsweise in »Versailles« mit Guillaume Depardieu. In »Angèle und Tony« spielt er den Schwiegervater von Clotilde Hesme, die er für den Tod seines Sohnes verantwortlich macht und in deren Obhut er seinen Enkel auf keinen Fall geben will. Er hat kein Herz aus Stein, wie man am Ende entdeckt. Descamps' verschlossene Figuren sind zu Einsicht und Großmut fähig, aber erst nach einem langen inneren Kampf. In »Das ist unser Land!« (wiederum von Belvaux, zu dessen stock company er gehört) kann er den Gedanken nicht ertragen, dass seine Tochter (Emilie Dequenne) für eine rechtspopulistische Partei kandidieren will. Die ganze Biographie des Vaters steht dagegen, mit Faschisten gemeinsame Sache zu machen. Die soziale Fraktur zieht sich bei Belvaux zwar etwas holzschnittartig durch die Familie. Aber sie bestätigt, dass eigentlich alle Filme des Schauspielers Auskunft geben über das gesellschaftliche Klima.

Das arbeitet er nicht explizit heraus, sondern verkörpert es. Seine Kunst besteht darin, eine Ahnung zu geben vom Innenleben seiner Charaktere, das reich und zweifellos mühsam ist. In seinem Blick liegt Lebensanschauung: Enttäuschungen, Zerwürfnisse, verlorene Illusionen und eine Wachsamkeit, die gegen Widrigkeiten wappnen soll. In »Die Ruhelosen« spürt man, er würde seinen Sohn gern retten; auch um dessen Familie willen. Es fällt ihm schwer, das Leid der anderen hinzunehmen, aber er zeigt Schleifspuren der Resignation. Hat man ihn auf der Leinwand je lächeln sehen? Ich bezweifle es. Seine Rollen lassen Heiterkeit nicht zu. Und er selbst? Ich stelle mir vor, dass er über einen guten Witz herzhaft lachen könnte. Es ist ein Funkeln in seinen Augen, das er nicht ganz tilgen kann.

 

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