Sie haben die Wahl: "Immer mehr, immer fröhlicher" oder "Irrtum im Diesseits"

Die Kür der 100 besten Filme, die "Sight and Sound" seit 1952 alle zehn Jahre durch eine weltweite Umfrage unter Kritikern (sowie Festivalleitern, Programmgestaltern etc.) ermittelt, erregt gemeinhin eher mittlere Aufmerksamkeit. Diesmal jedoch war sie Schlagzeilen wert.

Ihr Ergebnis ist eine Sensation; ich bin sicher, Sie alle kennen es längst. Aber zum Ranking gleich mehr. Da ich selbst zu den über 1600 Journalisten gehöre, die gefragt wurden, fühle ich mich nicht befangen, fange aber lieber erst mal sacht und bescheiden an. Unter den zahlreichen Einsichten, die die Veröffentlichung der Liste für mich bereithielt, nimmt die Entdeckung einer Vokabel, die mir zuvor nie begegnet war, zweifellos nur einen hinteren Rang ein. Dennoch: Die Feststellung der Zeitschrift, ihre Umfrage sei inzwischen "a major bellwether" im Feld der kritischen Meinungs- und Kanonbildung der Filmgeschichte, hatte es in sich. Das Substantiv erforderte schon mal eine Internetrecherche. Als Erstes bot es die Übersetzung "Leithammel" an. Das meinte die Redaktion sicher nicht, eher schon "Vorreiter" und eventuell auch "Vorbote". Mir hätte "Wasserstandsmeldung" genügt. Natürlich ist die Top 100 der Briten einzigartig und besitzt enorme Stahlkraft. Andererseits gehört die Selbstüberschätzung zu den Kardinaltugenden unseres Metiers.

Das wurde mir rapide klar, als ich die ersten Reaktionen im Netz und in den Feuilletons las. Die klugen entdeckte ich erst später, zum Beispiel in der "SZ". Fritz Göttler schreibt in seinem Kommentar von einem "Ruck", der durch die Filmgeschichte ging, um sich dann ungemein zugewandt, ja liebevoll mit dem Gewinner auseinanderzusetzen, "Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles" von Chantal Akerman. Aber, wie gesagt, fing ich meine Lektüre auf dem falschen Fuß an, bei "Indiewire", wo vier Redakteure und Redakteurinnen von den Mühen berichteten, die sie das Erstellen ihre Bestenliste kostete. Für Chefkritiker David Ehrlich muss das eine köstliche Höllenqual gewesen sein. Eingehend schreibt er über die Titel, die hinein gehörten oder gehört hätten. Derlei narzisstische Wonnen sind mir nicht fremd: In Bestenlisten stellt man sich selbst dar, seinen Geschmack, seinen Eigensinn, seine Gemütsverfassung. Und ich selbst haderte im Sommer ja mit der Beschränkung auf zehn Filme und meinem Wankelmut. Ebenso wie Ehrlich kapitulierte ich vor der Herausforderung, die größten Filme zu nennen, und kürte stattdessen meine Lieblingsfilme. Seine Kollegin Kate Erbland nahm sich selbst nicht ganz so wichtig; für sie zählten bestimmte objektive Parameter, beispielsweise: mehr Filme von Frauen. Bemerkenswert fand ich indes auch ihr Bewusstsein von der Flüchtigkeit solcher Entscheidungen. Sie behauptet, ihre Auswahl vergessen und erst in der Zeitschrift wiederentdeckt zu haben. Auch darin steckt eine gewisse Koketterie, aber es entsprach auch meiner Wahrnehmung. Dem Kollegen und der Kollegin, mit der ich über unsere jeweilige Auswahl sprach, erging es kurioserweise genau wie mir. Wir konnten ein paar Wochen danach neun der besten Filme nennen, aber einer fehlte immer.

Die auf den ersten Blick lächerlichste Reaktion auf die Bestenliste fand ich im Londoner "Observer", wo sich eine Autorin mit dem Abschneiden des britischen Kinos beschäftigte. Ganz so glorreich fiel der Befund nicht aus, dem Patriotismus konnte sie nur Genüge tun, indem sie auf auf all die englischen Regisseure verwies, die es mit ihren Hollywoodarbeiten auf die Liste geschafft hatten (Hitchcock, Chaplin, Ridley Scott). Was schmerzt die britische Seele mehr, fragte ich mich, der Brexit oder Truffauts Schmähung der mit dem Kino unvereinbaren Mentalität? Gleichwohl waren ihre Rückschlüsse ertragreich. Sie nimmt das Kinos als Spiegel der Gesellschaft und fragte sich, was es aussagt, dass der Sozialrealismus eines Ken Loach (ganz zu schweigen von Karel Reisz, Tony Richardson und John Schlesinger, die sie nicht im Blick hat) weltweit keine kritische Aufmerksamkeit erringt, dafür aber die vermeintlich realitätsflüchtigen Filme des Duos Powell & Pressburger? Deren pantasievoll beziehungsreicher »Irrtum im Jenseits« rangiert sogar noch vor ihrem Klassiker »Die roten Schuhe«.

Die "New Yorkt Times" widmete dem Ereignis ein Stück zu der Frage, was einen Film zu einem großen Film macht. Dahinter entpuppte sich eine munter animierte Grafik, welche die Bewegungen einzelner Filme in den Rangfolgen von 2012 und 2022 markiert. Einige der spektakulären Neuzugänge in der Top Ten sind überraschende Aufrücker, »In the Mood for Love« nahm vor zehn Jahren Platz 25 ein, »Beau Travail« Platz 80, »Jeanne Dielman« Platz 35. Das Verfahren hat eine gewisse sportliche Verve, die natürlich am Entscheidenden vorbeigeht. In die Zwischenzeit fallen #Metoo und Black Lives Matter. Insgesamt elf Regisseurinnen (mit zum Teil zwei Filmen, der für mich verblüffendste Neuzugang ist »Porträt einer jungen Frau in Flammen« auf Rang 30, nicht unbedingt Céline Sciammas bester Film, aber vielleicht ein repräsentativer) und fünf Beispiele des New Black Cinema tragen dem Rechnung. Der Wind weht aus einer 2012 unerwarteten Richtung. Das hat zweifellos auch damit zu tun, dass sich die Zahl der Abstimmenden beinahe verdoppelt hat.

Die Einladung, an der Wahl vor zehn Jahren mitzuwirken, habe ich seinerzeit unbegreiflicherweise ausgeschlagen. Vielleicht hielt ich sie insgeheim für einen Irrtum (die Selbstüberschätzung hat auch ihre Kehrseite). Meine Favoritenliste hätte gewiss anders ausgesehen, aber nicht wesentlich. Es ist zumindest kein Film aus den letzten Jahren darunter, nicht einmal einer von Jacques Audiard. Unbegreiflich, aber vielleicht ändert sich das 2032. Es ist die Liste eines weißen, alten Mannes. Sie hätte vor zehn Jahren womöglich durchaus ihre Berechtigung gehabt, »Rio Bravo« nahm damals Rang 67 ein. Zwei Titel haben es in die diesjährige Rangordnung geschafft, »Madame de....“ und „Yiyi« teilen sich da einen ehrenvollen 90. Platz. Mir gefallen die aktuellen Top 100, dass Murnaus »Sunrise« auf ihr weit vor „Metropolis“ steht, ist ein echter Fortschritt. Ich begrüße ihre Öffnung, will nicht ausschließen, dass sie wetterwendisch ist, sehe aber keine Verschwörung zeitgeistiger Dogmatik am Werk ist. Vorerst hadere ich nur mit ihren Auslassungen. Die Repräsentation der Kinematographien hat sich verlagert. Osteuropa ist fast von der Landkarte getilgt, kein Film von Jancso, Wajda, geschweige denn Zanussi. Ich war naiv genug, nach »Chintaown« zu suchen (immerhin das beste Drehbuch des New Hollywood), aber hatte schlicht den Polanski-Malus übersehen. Die Liste ist kein Konsens, sondern Resultat einer Abstimmung. Freunde des iranischen Kinos mögen beklagen, dass dieses nur mit »Close up« von Kiarostami präsent ist. Ich freue mich, dass das Kino Taiwans, das ich stets für bildmächtiger und letztlich auch poetischer hielt, stärker vertreten ist. Und es rührt mich, dass Erices »Der Geist des Bienenstocks« noch immer nicht unter dem Radar verschwunden ging.

Die aktuelle Top 100 ist nicht nur das Resultat eines demographischen und ideologischen Wandels, sie stellt auch die Kategorie des Klassikers infrage. Einige Ewigkeitswerte des Kinos halten sich wacker, aber in zehn Jahren vielleicht schon nicht mehr, was keine Tragödie wäre. Womit wir erneut bei der Frage wären, was einen großen Film ausmacht. Einige Kriterien liegen nahe: Er müsste seine Konkurrenten und seine Zeit überragen, einflussreicher, stilbildender als andere sein, dem Kino neue Wege eröffnen. Es kommen auch soziale und politische Komponenten hinzu, er sollte auf die Gesellschaft wirken. Die Listen der vorangegangenen Jahrzehnte waren in dieser Hinsicht konservativer – es war ja bereits ein Schock, dass »Vertigo« 2012 plötzlich »Citizen Kane« entthronte, der die Rangordnung seit Menschengedenken anführte -, aber das sprach nicht gegen ihre Legitimation: Sie waren ein Spiegel ihrer Zeit. Die Gegenwart ist vielstimmiger.

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