Nach zehn Minuten braucht es Seele

FilmschauspielerInnen (zumal französische) sprechen gern von den Risiken, die sie mit einer Rolle eingehen. Man muss dem Pathos solcher Bekenntnisse nicht immer misstrauen. In diesem Metier gibt man sichmit Geist und Körper preis und kann sich auch verlieren: Wer weiß schon genau, was man in sich entdeckt, wenn man sich in andere verwandelt?  

Wie sieht es erst bei Opernsängerinnen (gleichviel, woher sie stammen) aus? Da geht es um Alles. Ermonela Jaho muss jedes Mal auf der Bühne sterben, sonst ergäben ihre Anstrengungen keinen Sinn. Asmik Grigorian wiederum macht es Angst, wie leicht sie die Emotionen ihrer Charaktere entfesseln kann. Wie soll sie diese nur kontrollieren? Auch Barbara Hannigans Hingabe ist immens, aber sie lässt sich erst einmal rational auf sie ein: Dein bester Plan B, hat ihre Mentorin sie gelehrt, wird nie so gut sein wie dein schlechtester Plan A.

In „Fuoco Sacro – Suche nach dem heiligen Feuer des Gesangs“, der heute bei uns startet, geht Jan Schmidt-Garre der Frage nach, wie diese drei Sopranistinnen den Schmerz herstellen, nach dem ihre Bühnenrollen verlangen: Wie gelingt es ihnen, das Leiden zu einem Instrument werden zu lassen? Seine Protagonistinnen geben die Antwort darauf nicht leichthin, sie sind kluge Interpretinnen ihres eigenen Schaffens. Pathos eignet ihren Auskünften dennoch. Ihre Kunst besteht schließlich darin, dass man die Seele hören kann.

Dieser Eintrag hätte ebenso gut den Titel „Drei Porträts“ tragen können, Aber damit hätte er zu deutlich an den vorangegangenen angeschlossen. Gewiss, auch hier geht es um klassische Musik, auch hier spielt ein Samstagabend eine Rolle, den ich gebannt im Programm von 3SAT verbracht habe. Aber der endgültige ist viel schöner, zumal er einer Aussage der fulminanten Rollen- und Menschenversteherin Jaho geschuldet ist: „A beautiful voice is fine, but after ten minutes, you need soul.“ Ich hoffe, er ermutigt auch jene unter Ihnen, diesen wundervollen Film anzuschauen, die mit Opern nur wenig anfangen können und sie als Kunstform zu kulinarisch, elitär oder anstrengend finden.

Der Regisseur ist ein ausgewiesener Kenner dieser Welt, spätestens seit seinem „Opera Fanatic“ von 1998, einem selbsternannten Opern-Roadmovie, das er nun, in mehrfacher Hinsicht eitel, zitiert, um seinem neuen Film einen dramaturgischen Rahmen zu geben. Darin ging es um italienische Diven der alten Schule, die so gebieterisch wie exzentrisch auftreten. Ihre Epoche ist vergangenen, aber neue Wächterinnen des heiligen Feuers sind auf den Plan getreten. Sie stammen aus Albanien, Kanada und Litauen; divenhaft geben sie sich mitnichten. Ihr Metier üben sie in aller Herren Länder aus. Es verbindet Welten.

Neugierig wurde ich auf „Fuoco Sacro“ wegen Asmik Grigorian. Als Tatjana in Tschaikowskis „Jewgeni Onegin“ hatte sie in der Komischen Oper einen starken Eindruck auf mich gemacht, der mich jedoch nicht auf die Begeisterung vorbereitete, die sie 2018 als Richard Strauss' Salome auslöste. Das war an eben jenem Samstagabend. als auf 3SAT eine Aufzeichnung der Inszenierung von Romeo Castellucci lief. Beide Male musste sie gegen ein dominierendes Dekor anspielen, den unentrinnbaren grünen Rasen in Barrie Koskys Inszenierung von „Onegin“ und die monumentale Szenerie der „Salome“ in der Felsenreitschule in Salzburg, die massiv gebaut erschien und die Castellucci nutzte, um Distanz zwischen den Akteuren zu schaffen. Damals wusste ich noch nicht, dass Grigorians Auftritt das war, was man im Kino einen star-making turn nennen würde. Die DVD-Ausgabe bringt dieses Ereignis schön zur Geltung. Falls ich Sie angesteckt haben sollte: Mitte Mai tritt Grigorian in der Oper Frankfurt in „Fedora“ auf und danach als „Jenufa“ an der Staatsoper Berlin.

Schmidt-Garre hat einige Impressionen ihrer Proben in Salzburg erhascht. Überhaupt zeigt er seine Protagonistinnen mehr während der Arbeit, als bei ihren Bühnentriumphen. Er und sein Kameramann Thomas Bresinsky filmen sie feinsinnig und wachsam, die Montage von Sarah J. Levine ist sanft und agil. Man erfährt viel über ihr Handwerk, ihre Zweifel und Beharrlichkeit, über den Austausch mit Dirigenten (Jaho und der charmante Kirill Petrenko sind ein entzückendes Gespann) und Regisseuren (offenbar stört es Hannigan nicht, dass Krzsysztof Warlikowski bei den Proben zu „Pelléas und Mélisande“ E-Zigarette raucht). Ein ungemein ergiebiger Kunstgriff ist, dass der Regisseur seine Protagonistinnen dabei beobachtet, wie sie ihre Stücke mit Kopfhörer einstudieren und in ihrer jeweiligen Muttersprache kommentieren. Grigorian ist zeigt sich dabei als kritische Analytikerin („Lügen, alles gelogen“, sagt sie über eine Arie der Salome, „den Rücken heraus“ und „Luft, Luft, Luft!“). Sie ist ganz fixiert auf die Technik, um die Angst vor dem Auftritt zu bändigen.

Schmidt-Garre hat das Glück, dass alle Drei unterschiedliche Temperamente mit je eigenem, rigidem Arbeitsethos sind. Manchmal finden sie nur andere Worte, um das Gleiche auszudrücken. Aber die sind stets prägnant und eigensinnig genug. Man wünscht sich, er würde länger bei jeder von ihnen verweilen und freut sich dennoch, der nächsten wieder zu begegnen. Die vielseitige Hannigan – sie tritt auch als Dirigentin in Erscheinung - scheint mit leichterem Gepäck zu reisen. Ihre Kreativität ist pragmatisch: Sie steht vor einem Problem, das es zu lösen gilt. Für sie ist die Auseinandersetzung mit einer schwierigen Partitur „a beautiful struggle“. Sie mag Aspekte von sich in einer Rolle wiederfinden, aber das geschieht ohne Agonie. Sie verkörpert, nicht nur mit ihrem Repertoire, die Moderne. Eine sehr warmherzige Moderne, wenn man miterlebt, welch unaufdringliche Fürsorge sie dem greisen, schwerkranken Pianisten Reinbert de Leeuw zuteil werden lässt.

Die Montage schmiegt sich auch auf unterschiedliche Weise an die Protagonistinnen an. Bei Jaho legt sie Spuren aus, die sie später wieder aufnimmt. Ihre Aussagen werden erst eine Weile danach beglaubigt. Dass sie schwer aus einer Rolle wieder herausfindet, löst sich herzzerreißend ein, als man sieht, wie sie noch völlig mitgenommen ist von ihrer Tosca. Den Applaus scheint sie nicht zu hören – die Tonmischung ist diskret einfühlsam in diesem Moment, sie blendet ihn erst auf, als die Sängerin allmählich in die Wirklichkeit zurückkehrt. Ein andres Mal sagt Joha, sie müsse die Energie des Ortes spüren, an dem sie auftritt. Minuten später kauert sie dann auf der Bühne, um sie als ihr Territorium zu vermessen. Dazu fügt sich ein kurz zuvor gefallenes Zitat aus den Schriften Stanislawskis, der einen Schauspieler beobachtete, der zuerst lange über die Bühne wandelte, um seine Seele auf die Rolle einzustellen. Jaho ist gleichsam die Method Actress unter den Dreien, die den Ausdruck aus dem Geheimfach ihrer Erinnerungen hervorholt.

Grigorian wiederum machte es Schmidt-Garre im Schneideraum wohl nicht leicht. Sie scheint zunächst unzugänglich, die am wenigsten Greifbare zu sein; auf ihre erste Interviewäußerung muss man bis zur Hälfte des Films warten. Auch danach klaffen Lücken, die der Regisseur bestimmt gern mit einer Selbstauskunft gefüllt hätte. Aber hat sie das Zögern erst einmal überwunden, ist sie von schonungsloser Offenheit. Ihrer Versagensängste wird sie erst Herr, wenn sie eine Vielzahl von Medikamenten genommen hat. Das Eingestehen von Panikattacken hat mich verblüfft, denn in einem Programmheft las ich, dass die Bühne ihr Seelenort sei. Sie ist auf ihr groß geworden, wurde praktisch dort geboren: Ihre Eltern verliebten sich zuerst in den Rollen, die sie gemeinsam sangen, und dann im wirklichen Leben. Diese Angst wirkt im Film wie eine Zerreißprobe, die sie unaufhörlich bestehen will, wie ein Preis, den sie wacker zahlt.

Die Leben, welche die Drei jenseits der Arbeit führen, sind dem Film erfreulich unerheblich. Ihre emotionalen Biographien liegen offen genug dar. Indes will ich Ihnen nicht vorenthalten, wer der Lebensgefährte ist, von dem Hannigan erzählt, ihm habe das „Richterkleid“ für ihren Satie-Abend missfallen: Es handelt sich um Mathieu Amalric, der mich vor einigen Wochen an dieser Stelle als Doppelbegabung beschäftigte. Gleich zwei in einem Haushalt, da wird es ziemlich dynamisch zugehen. Ich erwähne ihn nicht zuletzt, weil er zu meinem letzten Thema führt. Grigorian, Hannigan und Jaho sind Darstellerinnen von gewaltiger Ausdrucksstärke. Der Regisseur will das Geheimnis ihres expressiven Gesangs ergründen - und kommt einer allumfassenden Hingabe auf die Spur. Körperliche Ergriffenheit teilt sich schon im Opernsaal mit, aber die Mimik ist ein Pfund, mit dem nur die Kamera wuchern kann. Die Drei stehen auch mit ihrem Antlitz für die Figuren ein, durch die sie sich auf der Bühne ausdrücken. Es sind wunderbare, echte Schauspielerinnengesichter – Jaho besitzt eines, das man in ein paar Jahren einmal Maiwenn wünschen würde -, von entschlossener Anmut. Umgekehrt stimmt es noch eher: Sie sind von anmutiger Entschlossenheit. In ihnen stehen die Seelenregungen geschrieben, die sie in ihren Rollen entdecken.

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