Löschkultur

Die ersten öffentlichen Bücherverbrennungen des 20. und des 21. Jahrhunderts wurden in Nordamerika veranstaltet. Nach dem Kriegseintritt der USA 1917 fielen ihnen Werke von Autoren zum Opfer, die aus Deutschland stammten. 2001 forderte ein Pastor in Pittsburgh seine Gemeinde auf, "Harry-Potter"-Romane zu verbrennen, die seiner Überzeugung nach Magie und Hexenzauber verherrlichten. Bei der Aktion, die in anderen Städten umgehend Nachahmer fand, gingen auch Alben von Bruce Springsteen, DVDs alter Disney-Filme und weiteres Teufelswerk in Flammen auf.

Bis zu dieser Woche machte ich mir keine rechte Vorstellung davon, wie häufig dieses Mittel des Kulturkrieges auch in westlichen Demokratien noch immer eingesetzt wird. Natürlich war mir klar, dass Bücherverbrennungen kein bloß historisches Phänomen sind, man denke etwa an das Autodafé der Bücher Orhan Parmuks in der Türkei oder die Koran-Verbrennung durch US-Soldaten in Afghanistan zum 10. Jahrestag der Anschläge des 11. September. Aber als Instrument der Zensur erschien es mir doch zu archaisch und als Inszenierung historisch zu belastet. Ein gründlicher Irrtum.

In dieser Woche wurde bekannt, dass 2019 in der kanadischen Provinz Ontario rund 4700 Bücher aus Schulbüchereien entfernt und und öffentlich verbrannt worden sind. Die Meldung von "Radio Canada" griffen weltweit vor allem konservative Medien auf, in der deutschsprachigen Presse bislang offenbar nur von "BILD" - dabei wäre das ein gefundenes Fressen für die Gegenwartspessimisten des „NZZ“-Feuilletons. Ich erfuhr zuerst aus "Le Figaro" davon, wo der Affäre mehrere Texte gewidmet sind, da auch um franko-belgisches Kulturgut betroffen ist: Zu den verbrannten Büchern zählen das Asterix-Abenteuer "Die große Überfahrt", "Tim in Amerika" sowie drei "Lucky Luke"-Comics.

Den inkriminierten Titeln wird vorgeworfen, rassistische Inhalte zu verbreiten und stereotype Bilder zu zeichnen, die indianische Ureinwohner als beleidigend empfinden können. Die von der Schulbehörde angeordnete Maßnahme geschah seinerzeit keineswegs im Geheimen, sondern wurde öffentlichkeitswirksam inszeniert – sie fand während der Unterrichtsstunden statt –, kam aber erst jetzt, mitten im kanadischen Wahlkampf, ans Licht. Die Zeremonie verstand sich als Versuch der Aussöhnung mit den "First Nations", die entsetzliches Unrecht erfahren und bis heute andauernde Traumata durchleben mussten. Sie sollte, wie eine Vertreterin der Behörde betont, eine Geste der Offenheit sein, die den Geist der multikulturellen Gesellschaft demonstriert. Wie viel verkehrter kann die Welt noch werden?

Ob den Scheiterhaufen eine Diskussion über den Inhalt der als unzeitgemäß aussortierten Werke vorausging, ist nicht bekannt. Sie wäre einer offenen Gesellschaft angemessen gewesen. Aber hier hat die puritanische Furcht, mit dem Bösen in Berührung zu kommen, wohl wieder das letzte Wort behalten. Und es genügte nicht, Bücher aus den Regalen zu entfernen und dem Kanon zu tilgen. Das ist im Nachbarland USA längst Praxis, wo regelmäßig Klassiker so gebrandmarkt werden. Nein, es musste ein Freudenfeuer entfacht werden, an dem sich die Gemeinschaft der Wohlmeinenden ergötzen durfte.

Mit diesem Ritual katapultiert sich eine Gesellschaft, die sich für woke hält, zurück in vor- aufklärerische Zeiten. Während der Inquisition wurde Bücherverbrennungen eine ebensolche reinigende Kraft zugesprochen. Das Feuergericht (der Begriff Autodafé stammt von der iberischen Halbinsel und bedeutet „Urteil über den Glauben) traf nicht nur die Bücher, sondern brachte oft auch deren Verfasser auf den Scheiterhaufen. Obwohl noch im 18. Jahrhundert Autodafés auf päpstliches Geheiß von römischen Henkern durchgeführt wurden, hat sich der Begriff der "Bücherhinrichtung" nie durchsetzen können. In Ontario landete ein Teil der 4700 Bücher angeblich nur im Müll und wurde recycelt. Aber das macht nicht einmal einen graduellen Unterschied. Auf der Schwarzen Liste der Schulbehörde stehen noch 200 weitere Buchtitel, deren Prüfung aber vorerst ausgesetzt wird.

Denn inzwischen hat die Affäre eine ironische Volte geschlagen. Suzy Kies, die Initiatorin der Bücherverbrennungen, ist als Hochstaplerin entlarvt worden. Die von Justin Trudeaus liberaler Partei ernannte Leiterin der Kommission für indigene Stämme hat, entgegen ihren Behauptungen, keine indianischen Wurzeln. Recherchen von Radio Canada ergaben, dass kein Geburtsregister sie als Angehörige oder Nachfahrin des Stammes der Abénakis führt. Aus dieser Herkunft bezog die Brandtsifterin aber die moralische und politische Legitimation ihres Amtes. Vor drei Tagen trat sie zurück, um weiteren Schaden von der Partei abzuwenden. Die Vorwürfe des Radiosenders bestreitet die selbsternannte "Bewahrerin des Wissens". Ein tragischer oder pathologischer Fall kultureller Aneignung? Es ist nicht auszuschließen, dass Suzy Kies sich im Herzen als Indianerin fühlt.

 

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