Vier Monate lang Dienstag

Das Warten auf »Tenet« ist zwar noch nicht vorüber. Aber wir müssen uns nicht mehr in beckettscher Geduld fassen: Sein Erscheinen ist jetzt für einen festen Termin angekündigt. Der Film, der den Sommer retten sollte, kommt in den USA nun am 3. September heraus, dem Labor Day Weekend, das früher das Ende der Saison einläutete.

Nachdem Nolans Film mehrfach verschoben wurde, haben sich Warner Bros. auf diesen Zeitpunkt festgelegt. Er wirkt realistisch, ist aber aus Sicht der Kinobesitzer natürlich viel zu spät. Die Durststrecke bis dahin beträgt noch fünf Wochen, die halten bestimmt nicht mehr alle durch. In anderen Ländern dauert sie eine Woche kürzer, in Deutschland startet »Tenet« nach der gestrigen Verlautbarung am 27. August. Warners hatten lange mit sich gerungen, ob sie die 200-Millionen-Produktion wirklich vor ihrem US-Start schon international herausbringen sollten. Das Risiko der Filmpiraterie, von der man lange nichts gehört hat, wurde ins Feld geführt. Und da außer den Beteiligten niemand den Plot von Nolans Film kennt, ist die Angst vor Spoiler-Verrat entsprechend groß. Aber das globale Einspiel fällt bei den Filmen dieses Regisseurs in der Regel stärker zu Buche als das heimische. America last – wenn das kein Zeichen ist!

Signalwirkung wurde »Tenet« von Anfang an zugeschrieben. Ich weiß nicht, wie ein einzelner Film so viele unterschiedliche Erwartungen erfüllen kann. Wir werden das Heilsversprechen zu gegebener Zeit überprüfen. Aber die Ankündigung des Studios ist auch deshalb gerade höchst willkommen, weil sich in der vergangenen Woche die Nachrichten von Startverschiebungen häuften. Die Sequels von »Top Gun« und »A Quiet Place« etwa werden auf das nächste Jahr verlegt. Besonders bei Disney stehen viele Titel auf der Kippe. Der Konzern fragt sich, ob er wirklich eine Kinoauswertung wagen oder doch lieber auf VOD ausweichen soll. Das große Zugpferd »Mulan« ist derzeit von der Startliste verschwunden. Disney gab die Entscheidung wohlweislich erst nach Börsenschluss bekannt. Zwar sind in den meisten Bundesstaaten die Kinos theoretisch wieder geöffnet, allerdings bei weitem nicht vollumfänglich - und in entscheidenden Territorien wie etwa New York noch gar nicht. Angesichts der verheerend steigenden Infektionszahlen ist die Angst vorm Kinogang größer als die Lust darauf. Flugreisen scheinen nach dortiger Expertenmeinung weniger riskant.

Die Verunsicherung der Branche ist so groß, dass bereits Titel verschoben werden, die erst im übernächsten Dezember herauskommen sollten – namentlich die Fortsetzungen der »Star Wars«-Saga und von »Avatar« (ich bezweifle, dass daraus je ein Franchise werden wird, wo 3-D doch schon längst wieder aus der Mode gekommen ist). Spielbergs Neuverfilmung der »West Side Story« hingegen ist nach wie vor für den 18. Dezember (2020) angekündigt; die Gerüchte, »No time to die« sei auf den nächsten Sommer vertagt (ein traditionell schwieriger Starttermin für Bond-Filme in den USA), haben sich bislang nicht erhärtet. Aber die großen Studios fahren erst einmal auf Sicht. Ob und wie das Independentkino die Krise überwinden könnte, steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt.

Vor drei Wochen war ich in Paris, um mir vorab die Louis-de-Funès-Ausstellung in der Cinémathèque francaise anzuschauen. Meist herrscht bei Pressebesichtigungen großer Andrang, in Pandora-Zeiten wurden sie auf vier Tage gestreckt, jeder Journalist bekam einen eigenen Termin. Das Haus war menschenleer, nur in der Ausstellung selbst drehten zwei Fernsehteams. Die Pressebetreuerin sagte, es herrsche so wenig Betrieb wie sonst nur an Dienstagen, wo die Institution geschlossen ist. In mürben Tonfall fügte sie hinzu: "Wir hatten vier Monate lang Dienstag." Anderthalb Wochen später berichtete sie mir, die Ausstellung sei fulminant angelaufen und die Kinovorstellungen seien meist ausverkauft. Zahlen nannte sie nicht; Ermutigung lässt sich derzeit schwer beziffern.

In Frankreich sind die verhaltenen Hoffnungen, die sich an die Wiedereröffnung der Kinos am 22. Juni Juni geknüpft hatten, insgesamt merklich geschwunden. Die Zuschauerzahlen pendeln sich bei etwa einer Million pro Woche ein. Sonst sind sie im sommer dreimal so hoch. Das ist eigentlich kein schlechter Schnitt, wenn man bedenkt, dass die Platzkapazitäten auf ein Drittel reduziert sind und es aus Hygienegründen weniger Vorstellungen gibt. 10 Prozent der Kinos öffneten erst gar nicht wieder; etliche haben seither erneut zugesperrt: vorerst bis Ende August. Nicht aus Angst vor einer zweiten welle, wie momentan in Spanien, sondern schlicht, weil der Betrieb sich nicht lohnt - zumal in der Provinz, wo die Zuschauerzahlen teilweise um 80 Prozent zurückgehen. Heute las ich, dass auch das stolze "Rex" in Paris seine Türen wieder geschlossen hat: Gerade die großen Häuser mit vielen Sälen sind auf zugkräftige Neustarts angewiesen und bekommen das Ausbleiben voraussichtlicher Blockbustern bitter zu spüren.

Ende Juni hatte man vielleicht noch keine Vorstellung davon, wie mühsam der Neustart tatsächlich werden würde. Lust auf den Kinobesuch ist ja durchaus vorhanden, erklärten mir Freunde, aber es fehlen die attraktiven Filme. Ich war zu früh in Paris, um »Eté 85« zu sehen, den neuen Francois Ozon. Auf ihm ruhten große Hoffnungen. Nach zwei Wochen hat er immerhin rund 200000 Eintrittkarten verkauft. Das wäre das Pariser Äquivalent der "tapferen Zahlen", von denen Christiane Peitz im "Tagesspiegel" mit Blick auf deutsche Arthouse-Filme wie »Undine« und »Berlin Alexanderplatz« schrieb. Aber es ist ein kleiner Tropfen auf einen sehr großen heißen Stein.

Ich ging in Paris mehrmals in eines meiner Lieblingskinos, das "Louxor". In Ermangelung neuer Filme hatte es die Retrospektive »Forbidden Hollywood« wieder aufgenommen, die schon im Frühjahr angelaufen war. Natürlich war ich gespannt, wie viele Leute sich alte Schwarzweißfilme aus den frühen 1930ern anschauen wollten, aus dem "Pre-Code"-Zeitfenster, als Filmemacher und Studios der Zensur für ein paar Jahre ein Schnippchen schlugen. Auf meine Frage nach dem Sicherheitsabstand winkte der Kassierer lächelnd ab. "Sie werden sehen", meinte er, "das Problem erledigt sich momentan von selbst." Tatsächlich gab es freie Plätze im Übermaß. Zur ersten Nachmittagsvorstellung kam rund ein Dutzend Zuschauer, danach wurden es etwas mehr. Mein Freund Binh hatte an diesem Nachmittag in einem anderen Kino »The Hunt« mit Hilary Swank gesehen und berichtete, sie seien zu viert gewesen. Ein befreundeter Verleiher hatte vor ein paar Tagen zu ihm gesagt: "Ich schaue mir die Zahlen erst gar nicht mehr an."

Es deprimiert mich, diesen Text zu schreiben. Die Verletzbarkeit des Kinos, seine fragile Zukunft, erfüllen mich mit einer wütenden Traurigkeit. Ich wünschte, ich hätte andere Nachrichten zu berichten: vom Wiederaufblühen. Ich würde gern an die Ergebnisse des Gutachtens glauben, das deutsche Kinobesitzer in Auftrag gegeben haben und das zu dem Ergebnis gelangte, in Büros sei das Infektionskino größer als in Kinos. Aus Asien kommen immerhin Hoffnungszeichen, aktuell gerade vom japanischen Markt und aus Südkorea, wo »Peninsula«, die Fortsetzung von »Train to Busan«, auch in der zweiten Woche rekordverdächtige Zahlen erreicht. Hoffentlich darf das Kino weltweit bald aus seinem Sommerschlaf erwachen.

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