Eine Lockerung

Die Filmproduktion mag derzeit weitgehend still stehen. Aber nichts hält Drehbuchautoren davon ab, ihrer Arbeit nachzugehen. Wann, wenn nicht jetzt wäre der Zeitpunkt, Ideen frei zu entwickeln, ohne Auftrag oder Förderungsdiktat? Am Ende vielleicht gar freie Ideen?

Wenn ein Kreislauf angehalten wird, kann ein anderer beginnen. Muße zum Innehalten und Schauen gäbe es genug. Stoff ebenfalls. Aber damit fingen die Probleme natürlich schon an. Ausnahmesituationen bringen nicht zwangsläufig Ausnahmegeschichten hervor. Der Romantiker in mir rechnet mit dem Unvorhergesehenen. Er kalkuliert mit dem Geheimnis. Der Realist indes erwartet nicht, dass die Formeln plötzlich außer Kraft gesetzt werden. Lassen wir ihn für den Moment obsiegen: Der Pakt, den die Phantasie mit dem aktuellen Geschehen schließt, dürfte vertrauter Logik gehorchen. Das hiesige Kino wird die Chance nutzen, sich als systemrelevant zu erweisen.

Sozialrealistische Dramen stünden an über Existenzen, die ausgelöscht werden. Die Sinnkrise eines Schaffners, der keine Fahrkarten zu kontrollieren hat? Eher nicht, die Züge werden ja wieder voller. Vor Heimbürosatiren wird mir jetzt schon Angst und Bange. Häusliche Zerreißproben hingegen werden bestimmt bewährt sensibel verhandelt: Gewalt ohne Schuldige, dafür Zuspruch für die Selbstbehauptung der Opfer. Aber werden die Helden der Krise auch zu Filmhelden avancieren dürfen? Kassiererinnen und PflegerInnen wohl nicht; es wäre schon begrüßenswert, wenn sie fortan angemessen bezahlt würden. Für Paketboten ist das sowieso ausgeschlossen, die klingeln ja nicht mal mehr. Die Besatzungen von Intensivstationen hätten bessere Aussichten auf nachmalige Heroisierung. Erst recht Ärzte, die unmögliche Entscheidungen treffen müssen. Wobei sich die Angehörigenperspektive im deutschen Kino traditionell stärker bewährt hat.

Bestimmt liegen Journalisten, die gewohnheitsmäßig in den Korridoren der Macht wandeln, bereits auf der Lauer. Innenansichten des Krisenmanagements, quasi als Sequel zu »Die Getriebenen« (zugegeben, der lief im Fernsehen, aber macht das hier zu Lande einen Unterschied?), diesmal noch vielstimmiger beziehungsweise föderaler? Werden kommen, welcher Redakteur könnte einer solchen Archäologie der frisch vergangenen Gegenwart widerstehen?

Natürlich müsste der soziale Abstand nachträglich überwunden werden: Die Generationen dürften wieder trotzig zusammenrücken. Es wird sich zeigen, ob dies Kino, das sich notorisch bemüht zeigt, etwas mit dem Flüchtigen, dem Banalen, Nachrangigen. Mir persönlich würde schon ein Film genügen, der die atmosphärischen Verschiebung einfängt, die gerade eben noch stattfanden, das aufmunternde Lächeln etwa, das Fremde einander beim Spazierengehen schenken (man glaubt manchmal kaum, es mit echten Berlinern zu tun zu haben). Das ist ja auch schon wieder vorbei, seit wir diese tollen handgemachten Masken tragen. Die Erinnerung an Vieles wird verlorengehen, wenn die Welt wieder zum Gestern zurückkehrt.

Der Realist in mir malt sich derweil all die Liebeskomödien aus, die uns ins Haus stehen. Die Sehnsucht nach Nähe und Begegnungen ist groß, nach unverhofften jetzt erst recht. Dem Flirt den öffentlichen Raum zurückerobern, das wäre eine Kinoaufgabe! Romantische Missverständnisse wären vorprogrammiert. Das Spiel der Masken braucht auf der Leinwand allerdings Raffinement. Da sind sich Realist und Romantiker in ihrer Skepsis einig. Aber wer weiß, vielleicht werden beide irgendwann einen Film zu sehen bekommen, dem es gelingt, das Lächeln hinter der Maske zu zeigen?

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