Die Kunst zu lieben

Der französische Filmkritiker Jean Douchet, der Ende November im Alter von 90 Jahren verstarb, beherrschte den hohen Ton der Bestimmtheit wie kein zweiter. Was er schrieb oder sagte, klang immer definitiv. Es war so verlockend wie ein hingeworfener Fehdehandschuh. "Wer es vorzieht, in einen Mizoguchi-Film zu gehen statt zu einem Rendezvous," lautet eines seiner schönsten Postulate, "der hat weder etwas von der Liebe noch von Mizoguchi verstanden."

Es ist selbstverständlich nicht als Ausladung zum Kinobesuch zu verstehen; im Gegenteil. Für Douchet gab es kein Wenn und Aber, wenn es galt, einen Film oder Regisseur zu verteidigen. Verrisse schrieb er seltener, jedoch ebenso unerbittlich.

Viel lieber jedoch steckte er die Leser mit dem Virus der Cinéphilie an. Nicht von ungefähr heißt einer seiner bekanntesten Artikel "L'art daimer", die Kunst zu lieben. Auch eine Essaysammlung hat er später nach ihm benannt. In dem Text lässt er keinen Zweifel aufkommen, dass er sie beherrschte und willens war, seine Leserschaft darin einzuweihen.

Ich lernte ihn zunächst als Autor kennen, später aber auch als einen ehrgeizigen Vermittler: In der Cinémathèque francaise veranstaltete er regelmäßig einen Filmclub, in dem er jeweils einen Film vorstellte (gleichviel, ob alt oder neu), ein Vortrag über ihn hielt und dann zur Diskussion freigab. Letzteres zuweilen eher um der Höflichkeit willen, denn eigentlich war ja schon alles gesagt. Schon als Autor und Redakteur bei den „Cahiers du cinéma“ war er ein unermüdlicher Pädagoge. Douchet sah seine Aufgabe darin, das Geheimnis des Sichtbaren zu entschlüsseln. Das tat er mit der Doppelbegabung zu Leidenschaft und Luzidität. Ich glaube, von niemandem habe ich so viel über Kenji Mizoguchi erfahren wie von ihm. Falls er nun also im Cinéphilenhimmel sitzt (vielleicht gesellig einen Rotwein trinkend, wie während seiner Einführungen auf meinen französischen DVD-Editionen), wird es ihn gewiss mit Genugtuung erfüllen, dass das Berliner Arsenal dem japanischen Regisseur eine Retrospektive widmet. Von den 80 Filmen, die er gedreht hat, sind leider nur noch 30 erhalten. 22 davon sind bis Ende Januar in Berlin zu sehen, und sie sind so programmiert, dass sich mannigfache Verbindungen zwischen seinem Früh- und Spätwerk knüpfen lassen.

An dieser Stelle ist Mizoguchis Name schon häufiger gefallen (etwas ausführlicher im Eintrag "Wenn sie lächelt, kostet es ein Vermögen" vom 4. Oktober letzten Jahres), aber den eingangs zitierten Satz zu ihm kannte ich noch nicht, sondern entdeckte ihn erst im Nachruf auf Douchet, der in "Le Monde" erschien. Er führte ihn gern und anscheinend oft im Mund. Er besteht auf der Entgrenzung von Kino und Leben, zwei Sphären, die sich bei diesem Regisseur auf besondere Weise durchdringen. Für Douchet gehörte Mizoguchi zu den großen Meistern, weil er die Effekte gleichsam ausradiert, die Technik unsichtbar werden lässt. Das ist auf den ersten Blick paradox, da er ja gerade für seine eleganten, ausgreifenden Kamerafahrten gerühmt wird. Die hatte Douchet natürlich genau im Blick, er schätzte ihn als einen Regisseur, der nicht Dinge, sondern Ideen filmt: einer, der innere Prozesse in äußeren Bewegungen und Gebärden sichtbar werden lässt. Eine der schönsten Analysen gelang Douchet in einem Video-Essay über "Ugetsu Monogatari" (Erzählungen unter dem Regenmond), wo er das Zerfallen einer Ehe aus den sich verändernden Positionen eines Paares herleitet, ihrer sich wandelnden Beziehung zu bestimmten Requisiten und der zwischen ihnen entstehenden Leere.

Für Douchet war noch selbstverständlich, dass Mizoguchis Werk zu den Ewigkeitswerten der Filmgeschichte gehörte. Ob das noch für nachfolgende Generationen gilt? Der Kanon verändert sich schließlich ständig, erweitert sich glücklicherweise – dem traditionellen Dreigestirn des japanischen Kinos, Kurosawa-Mizoguchi-Ozu, darf man längst Mikio Naruse hinzufügen, der lange Zeit allenfalls als Satellit galt. Im Gegenzug könnten dem Wandel aber auch Säulenheilige zum Opfer fallen, die einst unumstößlich schienen. Bei Hitchcock etwa, den Douchets Generation erst mühevoll durchsetzen musste, besteht im Licht der #Metoo-Debatte eine gewisse Legitimationsnot: Ist sein Kino nicht zu misogyn, als dass man es heute noch rückhaltlos verteidigen könnte?

Über diesen Verdacht scheint Mizoguchi erhaben: Er wird nach wie vor als einer der großen Frauenregisseure gehandelt. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass sich in seinem privaten Verhalten manches finden ließe, das aus heutiger Sicht tadelnswert erscheint. Der tyrannisch aktuelle Blick könnte ferner zu dem Befund führen, seine Frauenfiguren seien in der Opferrolle gefangen. In »Sansho Dayu« (Landvogt Sansho) entrollt er das ganze Panorama der Erniedrigungen, die Frauen im feudalen Japan zu erdulden hatten. Der moralische Kern seiner Heldin bleibt indes von allen Wechselfällen des Schicksals unangetastet. Seine Frauenfiguren wollen ihre Situation verbessern, sie bieten den Widrigkeiten die Stirn. Dafür brauchte Mizoguchi hervorragende Hauptdarstellerinnen, allen voran Kinuyo Tanaka. In dem Stationendrama »Saikaku ichidai onna« (Das Leben der Frau Oharu) ziehen Regisseur und Schauspielerin 1952 eine Summe ihrer gemeinsamen Arbeit und decken das Rollenspektrum von Tochter, Mutter, Ehefrau und Konkubine ab. Kinuyo Tanaka ist von der ersten Einstellung an der Beweggrund seiner überaus agilen Kamera. Sie besitzt jene Souveränität, die einen Darsteller nicht allein zum Objekt der Inszenierung, sondern zum Subjekt der Erzählung werden lässt.

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