Die Kostbarkeit der Zeit

Nein, meint der Spielkamerad mit der Mütze feist, eine grüne Sonne gibt es nicht. Er kennt sich schließlich in der Welt aus, da kommt so etwas nicht vor. Aber der kleine Sunda weiß es besser. Wenn man die Sonne durch die Splitter getönten Glases betrachtet, kann sie in jeder erdenklichen Farbe erstrahlen. Die anderen Freunden folgen seinem Beispiel und entdecken begeistert, dass mit einem Mal die große Stadt violett aussieht.

Während aus dem Jungen mit der Mütze später einmal ein braver Bürokrat, Krämer oder Parteisoldat werden könnte, scheint die Bestimmung des kleinen Helden aus Michail Kaliks „Der Sonne nach“ eine poetische zu sein. Hat er nicht gleich zu Beginn den Spielplatz im Handstand, kopfüber betrachtet? Seiner Perspektive vertraut sich der Film von 1961 vergnügt an, dessen Pastellfarben zauberhaft sind. Mit Kaliks berühmtestem Film, der in den Untertiteln „Ich bin der Sonne nachgegangen“ heißt, beginnt heute Abend im Berliner Arsenal eine Werkschau des Regisseurs, dessen Stern kurz und hell im Tauwetter aufleuchtete, das nach Stalins Tod im sowjetischen Kino anbrach.

Es ist ein munterer, lebenszugewandter Auftakt. Die Stadt lässt sich in dem Kinderfilm spielerisch in Besitz nehmen. Die Welt steht offen. Zumindest ist Sunda fest davon überzeugt, dass man sie ganz umrunden kann, wenn nur man der Sonne folgt. Es ist ein rechtes Wunderland, das er nun durchquert. Die Trommel mit den Lotterielosen fasziniert ihn ebenso wie die Modelle der neuesten Aeroflot-Maschinen im Reisebüro. Er schaut zu, wie ein junger Mann mit dem Spiegel Worte ins Holz einer Parkbank brennt und wie am Abend die Stadt von tausend künstlichen Sonnen erleuchtet wird. Der freundliche Rotarmist, der ihn durch den Rest der Nacht zum prächtigen Sonnenaufgang geleitet, gibt sich als Musiker zu erkennen. Zwischendurch ergreift einmal Traurigkeit Besitz von dem kleinen Welterforscher, als die Sonne hinter Wolken verschwindet. Da begegnet er Kriegsversehrten, marschiert bei einem Trauerzug mit und will wissen, was das Wort „unvergesslich“ bedeutet. Dann kehrt das wärmende Licht zurück. Die Sonne gibt die geometrische Grundfigur vor, an der sich die Lebensfreude von Kaliks Helden entzündet: Die Kreisform zieht ihn in den Bann, er führt vergnügt ein Rad neben sich, bewundert den sich drehenden Globus über dem Reisebüro, läuft einer schönen Frau mit drei unternehmungslustigen Luftballons nach, darf von einer Wassermelone kosten und schaut staunend zu, wie Tänzerinnen elegante Ballgymnastik betreiben. Begleitet wird Sunda auf seiner Reise von der Musik Mikael Tariwerdijews, die so zuverlässig erwartungsvoll wie eine Spieluhr klingt.

Der Komponist war der engste Mitarbeiter des Regisseurs, dessen Nachruhm in den Wirren sowjetischer Regimewechsel fast ausgelöscht wurde. Als junger Filmstudent fiel er Anfang der 50er Stalins Antisemitismus zum Opfer, kam in einen Gulag, konnte erst nach dessen Tod sein Studium an der Moskauer WGIK fortsetzen. Nach dem Sechstagekrieg war er in der Sowjetunion erneut Repressalien ausgesetzt, sein Film „Lieben...“ wurde 1968 von der Zensur massiv gekürzt (die geschnittenen Szenen werden im „Arsenal“ jeweils nach den Vorführungen gezeigt) und er emigrierte nach Israel. Sein Name wurde aus der Liste der Filmschulabsolventen gestrichen. Fabian Tietke schrieb gestern in der taz (https://www.taz.de/!5563448/) sehr schön über die Wechselfälle dieser Karriere.

Ein Tauwetter ist eine kostbare Zeitspanne. Man weiß, was ihr voranging, aber kann nicht vorhersagen, wie lang sie dauern wird und wie sehr die Verhältnisse danach wieder verharschen könnten. Im sowjetischen Nachkriegskino dauerte diese Periode nicht viel länger als ein Jahrzehnt: so kurz war, dass dem Aufbruch schon sein vorzeitiges Ende eingeschrieben war. Chruschtows berühmte Rede vor dem 20. Parteikongress war ihre Initialzündung; eine sachte Liberalisierung der Künste setzte jedoch bereits kurz nach Stalins Tod ein. Der hatte die Filmproduktion seit Ende der 1940er Jahre gedrosselt. 1951 entstanden ganze acht Filme, 1954 jedoch bereits 45, bis zum Ende des Jahrzehnts stieg die Zahl auf über 100 an. Endlich konnte sich eine neue Generation von Filmemachern Bahn brechen. Das neue Kino feierte Abschied vom pompösen Personenkult der Stalin-Ära. Selbst die „Pravda“ verlangte nach anderen Filmen: solchen, in denen es nicht mehr nur um die Einhaltung von Produktionsplänen ging, sondern auch um das Privat- und Familienleben, um die Seelenlage der Bevölkerung. Regisseure wie Marlen Chuziew nahmen sich nun das Privileg des Zweifelns heraus. Ihre Filme sandten atmosphärische Botschaften, die sich nicht ohne Weiteres zensieren ließen. Sie reflektieren einen anderen Ton, einen ungekannt freizügigeren Umgang miteinander. Der Ungarn-Aufstand von 1956 bremste die Bewegung nur kurzzeitig, erst der Prager Frühling ging einher mit einer brutalen Konsolidierung der konservativen Kräfte.

Unter den Filmemachern, die das Wagnis der Psychologie, des Privaten eingingen, ist Kalik einer der Unbekannteren geblieben. Sein Verschweigen funktionierte lange Zeit perfekt. Mir sagte sein Name bis zu Tauwetter-Retrospektiven, die Anfang des Jahrzehnts in Berlin, Wien und anderswo stattfanden, nichts. In Neia Zorkaias „Illustrated History of Soviet Cinema“ kommt er nicht vor; nicht einmal im Kapitel über die „unvergesslichen Sechziger“. Bernard Eisenschitz erwähnt ihn nur einmal summarisch in seiner Studie über die Tauwetterperioden, erst in Marcel Martins „Le cinéma soviétique“ wurde ich fündig. Martin ist eingenommen von seiner Poesie; „Der Sonne nach“ erinnert ihn an „Der rote Ballon“ von Albert Lamorisse, was nahe liegt. Im Arsenal, im Februar im Filmmuseum Frankfurt und im März im Österreichischen Filmmuseum kann man diesen erstaunlichen Regisseur nun gründlich kennen lernen. Zu den Filmen gibt es Einführungen und eine gut besetzte Podiumsdiskussion.

Ich vermute, Kalik kannte Fellinis „Die Müßiggänger“, als er 1964 seinen nächsten Film drehte, „Auf Wiedersehen, Jungs“. Auch hier spielt Tariwerdijews Musik eine zentrale Rolle, das Klavierstück zu Beginn klingt sommerlich verträumt und einen Hauch elegisch. (Dieser Komponist, der seit einiger Zeit vor allem in England wiederentdeckt und ediert wird, wäre einmal einer ausführlichen Studie würdig.)

Kalik erzählt balladenhaft, wie die drei Titelhelden eine Zwischenzeit ihres Lebens mit Nichtstun, Verliebtsein und Pläneschmieden in einem Küstenort am Schwarzen Meer zu bringen. Mal ist der Stand menschenleer, mal quillt er über: Es ist klug, einen Film über die Kostbarkeit der Jugend im Wechsel der Jahreszeiten zu erzählen. „Auf Wiedersehen, Jungs“ ist ein so vollkommen dezenter Schwarzweißfilm, wie „Der Sonne nach“ ein Farbfilm ist.

Es ist viel Zeitgeschichte zu sehen und zu hören, denn dieses Jugend trägt sich in den 30er Jahren zu, regelmäßig schneidet Kalik Wochenschauen über die Verheerungen der Naziherrschaft ein. Sie wirken wie die Illustration der Gedanken, Ahnungen und Sorgen seiner Charaktere. Welche Aussichten hat die Liebe des Erzählers zu der temperamentvollen Inka? In den Szenen, in denen er sich im Treppenhaus von ihr verabschiedet, hebt das Scheinwerferlicht nur ihre Gesichter aus dem Dunkel hervor. Als die Jungs mit dem Zug in den Krieg fahren, läuft Inka ihnen am Strand hinterher. Sie ruft den Dreien den Filmtitel nach - und man wünscht sich brennend, ihre Hoffnung möge sich erfüllen.

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