Tausend Tode, keine Küsse

Anna May Wong in »Java Head« (1934)

Was fangen wir heute nur mit Anna May Wong an? Nach allem, was wir von Edward Said über Orientalismus gelernt haben, dürfen wir eigentlich keine Freude mehr an ihren Leinwandauftritten haben. Vielmehr sind wir gehalten, die Stereotypen, denen sie Gestalt verleiht, zutiefst zu verachten. Darf man den ersten Hollywoodstar mit chinesischen Wurzeln also überhaupt als Pionierin feiern?

Das Berliner Arsenal bietet den ganzen Juni über die Chance, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Es stellt eine Schauspielerin vor, die für einige Jahre einen erstaunlichen Ruhm errang und dann drohte, jenseits ihrer Auftritte in »Der Dieb von Bagdad« und »Shanghai Express« (wo sie freilich zuvorderst als Partnerin von Douglas Fairbanks und Marlene Dietrich wahrgenommen wurde) zu einer Fußnote der Filmgeschichte zu werden. Ideologische Debatten wie die, die ich eingangs skizziere, laufen natürlich immer Gefahr, auf Kosten schauspielerischer Leistungen ausgetragen zu werden. Anna May Wongs Karriere hält allerdings auch keine einfache Antwort bereit: Einige ihrer besten Filme bekräftigen tatsächlich das Klischee asiatischer Verschlagenheit, während sie in minderen Filme wie »Tiger Bay« durchaus die Stereotypen unterlaufen darf.

Zudem beklagte sie selbst in Interviews häufig und mit bemerkenswerter Offenheit die begrenzten Möglichkeiten, die Hollywood ihr bot. Zum Ende der Stummfilmära ging sie nach Europa, weil sie es leid war, tausend Tode zu sterben, die unweigerlich die Vergeltung dafür waren, dass ihre Figuren ein erotisches Versprechen ausgaben, das mit den Sitten nicht vereinbar war. (Es ist bemerkenswert, wie viel Haut sie in ihren Filmen zeigt; die chinoiseriehafte Verbrämung ihrer Kostüme täuscht kaum darüber hinweg, dass sie eigentlich nur Bikins sind.). Zwar waren ihre Überlebenschancen auch im deutschen und britischen Kino nicht zwangsläufig höher. Aber ihr Spielraum war größer.

Ihr Kinodebüt gab die filmbegeisterte Darstellerin 1919, mit kaum 14 Jahren. Nach zahlreichen Statisten- und kleinen Nebenrollen erlebte sie 1922 ihren Durchbruch in der Madame-Butterfly-Variante »The Toll of the Sea«, einem der ersten Technicolor-Filme. Darin spielt sie ihre erste (und für sechs Jahre einzige) Hauptrolle. Die Erzählperspektive ist gewissermaßen chinesisch, aber ihr größter Ehrgeiz zielt darauf, Amerikanerin zu werden, um der Liebe zu einem Geschäftsmann willen. Aus der Begegnung geht ein Sohn hervor, auf dessen Liebe sie zugunsten der standesgemäßen Frau des Mannes verzichtet. Die letzte Rolle des Films ist nicht erhalten, weshalb sie einen nur metaphorischen Tod stirbt. »The Toll of the Sea« stellt auch den ersten kapitalen Fall eines verhinderten (zumindest nicht gezeigten) Kusses mit einem Weißen dar, der andernfalls Tabus gebrochen hätte.

Douglas Fairbanks wurde auf sie aufmerksam. In »The Thief of Bagdad« spielt sie eine ihrer einfallsreichsten Schurkinnen, eine lebhafte Variation des Rollentyps der asiatischen Dienerin, der nicht zu trauen ist. Nun kann die Täuschung für einen Schauspieler ein reizvolles, spannendes Terrain sein: Es verlangt Raffinement, seine Hintergedanken zu verbergen. Diese Doppelbödigkeit lässt den Darsteller einen besonderen Pakt mit seinem Publikum eingehen. Bei ihr hat sie eingangs oft ein trügerisches Flair des Lieblichen. Das feine, diebische Lächeln, das sich auf ihren Zügen zeigt, wenn ein hinterlistiger Plan aufzugehen scheint, gehört zu ihren Markenzeichen. Übrigens war sie größer als viele ihrer Leinwandpartner, dass sie zierlicher wirkte, ist ein schöner Beleg für das Bündnis, das sie mit der Kamera schloss. 

Bei Anna May Wong schwingt da oft noch eine andere, unveräußerbare Facette mit, die nicht im Drehbuch stand und von ihren Regisseuren nicht vorgesehen war: ein besonderer Elan, eine Aura, die die Kamera einfängt und liebt. Natürlich verliert die Undurchsichtigkeit ihren Reiz, sobald sie zur Monokultur wird. Es gibt eine frustrierte Ambition, einen vereitelten Glanz in ihren Hollywood-Rollen, der aber eher einem Mangel an Phantasie von Autoren, Regisseuren und Produzenten geschuldet als ein Indiz ihrer darstellerischen Grenzen ist. Was zu spielen ihr stets verwehrt blieben, sind Alltag und Normalität. Sie ist unwiderruflich exotisch, eine hervorgehobene Figur, die Misstrauen schürt. Das Kosmopolitische ist auch ein Fluch für sie. Das Mädchen von nebenan gehörte zu ihrer Zeit und lange, lange danach nicht zu den Optionen, die asiatisch-stämmigen Schauspielerinnen zu Gebot standen. In den drei Filmen, die sie in Deutschland mit Richard Eichberg dreht, spielt sie gestrandete Figuren, die sich aufopferungsvoll um ebenfalls aus der Bahn geworfene Männer bemüht, wobei die Hoffnung auf romantische Wiedergeburt in schicksalhafte Einsamkeit mündet.

Ihr Ruhm löste sich ab vom bloßen Material ihrer Rollen. Ihre Hände wurden als die schönsten in Hollywood gerühmt. Sie galt als eine der bestgekleideten Frauen ihrer Zeit, ein Flapper mit modernem, asiatischem Flair; oft stammten die Kostüme aus ihrem eigenen Kleiderschrank. Ihre Aura ließ sich in Posen einfangen. Es gibt bei ihr mithin eine dekorative Souveränität, die Fotografen wie Edward Steichen inspirierte, der ihr Haupt 1930 auf einer spiegelnden Oberfläche neben eine weiße Chrysantheme drapiert. Für Fotojournalisten wie Lotte Jacobi und Alfred Eisenstaedt war ihre Erscheinung nicht weniger herausfordernd. Eisenstaedt fotografiert sie 1928 beim Berliner Presseball zusammen mit Dietrich und Leni Riefenstahl; von diesem gar nicht so bizarren Gipfeltreffen sind im Netz zahlreiche Varianten auffindbar, von denen einige das Gerücht ihrer Liebesaffäre mit Dietrich zu bestätigen scheinen.

Sie erlangte eine enorme, weltweite Sichtbarkeit auf Kinoleinwänden und in Hochglanzmagazinen. Walter Benjamin interviewte sie und geriet in ihren Bann. Literaten und anderen Intellektuellen konnte sie auf Augenhöhe begegnen. Diese gesellschaftliche Akzeptanz ging einher mit einer transatlantischen, nicht aber transpazifischen Karriere. In China, wohin sie 1936 auf Suche nach ihrem Vater und dessen Familie reiste, schlug der vermeintlichen Hollywood-Karikatur anfangs heftige Feindschaft entgegen. Erst mit ihrem leidenschaftlich pro-chinesischen Engagement während des Zweiten Weltkriegs konnte sie sich dort rehabilitieren. Ihre eigene Familie jedoch lehnte sie weiterhin wegen ihres voltenreichen Liebeslebens ab.

Um 2004 herum wurde sie in den USA zum Objekt einer massiven Neuentdeckung. In den großen Metropolen liefen Retrospektiven (als deren Mäzen Hugh Hefner auftrat), die von der Publikation mehrerer Monographien flankiert wurden. Anlass und ästhetischer Kern dieser Renaissance war die Wiederentdeckung von E.A. Duponts »Piccadilly« (den ich in »London, einst und demnächst« am 21.3. nur kurz erwähnen konnte). Es ist ihr Meisterwerk. Anfangs tanzt sie in der Spülküche des Nachtclubs tanzt, die Hüften langsam wiegend und von ihren ansonsten trägen Kolleginnen bewundert. Sie tut es vorerst noch absichtslos, was Dupont fast unglamourös filmt, aber empfindsam für ihre magische Ausstrahlung. Bald entdeckt sie die Macht ihrer Verführungskunst, diktiert dem Impresario, welches Kostüm sie tragen will und wo er es kaufen soll (nicht in Soho, sondern selbstverständlich in Limehouse). Sie zieht die Fäden, erst mit tückischer Demut und dann in souveränem Zugriff auf die Requisiten. Sie ist eine wehrhafte Rivalin der vorherigen Favoritin des Nachtclubbesitzers. Dafür wird sie auch in diesem Film bestraft. Aber zuvor gibt es den atemraubendsten verhinderten Kuss ihrer gesamten Karriere. Die Zensur schnitt hin heraus. Aber der Schnitt kommt nur einen Sekundenbruchteil davor: so rasch, als hätte man ihn wirklich gesehen.

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