Unverkanntes Genie

»Citizen Kane« (1941)

Ehrlich gesagt bin ich nicht traurig darüber, dass »Citizen Kane« nun nicht mehr die Liste der besten Filme aller Zeiten anführt, die das British Film Institute alle zehn Jahre durch eine Umfrage unter Kritikern und Filmemachern ermittelt. Generell hege ich einen tiefen Argwohn gegenüber Filmen, über die eine allgemeine Bewunderungspflicht erhoben ist. Ich glaube es tut einem Film nicht gut, so lange Zeit unangefochten zu sein. Vielleicht bekommt jetzt ja eine neue Generation Lust, Orson Welles' Film ganz unbefangent zu entdecken.

Er hat mich in Erstaunen versetzt, aber ich habe ihn wohl stets eher respektiert als geliebt. Dabei sind alle Bewunderer von »Citizen Kane«, die ich kenne, kluge Köpfe. Ich haderte stets ein wenig mit dem Eindruck, hier habe ein Regisseur seinem eigenen Genie ein Denkmal gesetzt. Heute gefällt mir jedoch dieser eitle Aspekt, der natürlich nicht unverzichtbar für ein Meisterwerk ist, viel mehr. Wie blutjung Welles damals war und wie unbeeindruckt von dem, was das Studio und andere ihm als unmöglich ausreden wollten! Und es berührt mich ungemein, dass er die schönste Szene nicht sich, sondern seinem Kollegen Everett Sloane überließ. Sie wissen schon: die, in der ein alter Mann von der unauslöschlichen Jugenderinnerung an ein Mädchen erzählt, das er nur für einen kurzen Augenblick auf einer Fähre vorbeifahren sah.

Ich fürchte, ich ziehe den Schauspieler Welles entschieden dem Regisseur vor. Auch da hat man es natürlich mit einem kapitalen Fall von Eitelkeit zu tun, mit einer Virtuosität, die vorzugsweise sich selbst Gesellschaft leistet. Darin habe ich aber immer eine ironische Skepsis gesehen: als würde er sich zuweilen fragen, ob er sich vielleicht nicht doch über die eigene Brillanz täusche. Schließlich legt sich in seinen besten Rollen immer ein sachtes Lächeln über seine Züge, etwa als Harry Lime »Der dritte Mann«. Seine Figuren scheinen unweigerlich mehr über sich, ihre Gegenspieler und den Lauf der Welt zu wissen als die anderen. Vor ein paar Wochen erst, als ich für die aktuelle epd-Ausgabe einen Text über True-Crime-Filme vorbereitete, geriet ich wieder in seinen Bann. Obwohl sein Name im Vorspann von »Der Zwang zum Bösen« an erster Stelle genannt wird, ist er nur wenige Filmminuten zu sehen. Er taucht erst nach gut einer Stunde auf, aber reißt dann als Verteidiger der zwei Mörder den Film an sich. Er war schon ein hinreißen schamloser Szenendieb. Wie schön, dass er so viele Brotarbeiten als Darsteller annehmen musste, um seine eigenen Filme zu finanzieren! Es stört mich gar nicht, dass so viele schlechte Filme darunter sind. Seine Präsenz adelte sie allemal.

Vor ein paar Jahrzehnten hätte der Anfang dieses Blogs in Filmkreisen wohl noch den Vorwurf der Majestätsbeleidigung auf sich gezogen. Heute ist Welles zwar kein Vergessener, aber doch ziemlich aus dem Brennpunkt der Cinéphilie verschwunden. Mit Entthronungen kannte er sich natürlich schon zu Lebzeiten aus; nicht nur, weil Shakespeare eine so zentrale Inspirationsquelle für ihn war. Wie massiv diese Verschiebung der Aufmerksamkeit ist, wurde mir in den letzten Tage mehrmals ins Gedächtnis gerufen. Gestern fiel es einer Redakteurin ein, noch rasch einen Text zu seinem Hundertsten bei mir zu bestellen. Und als ich einen Tag zuvor meinem Freund Robert Osborne in New York zum Geburtstag gratulierte, brachte ich unser Telefongespräch bald auf Welles. Vor Jahren hatte Bob mir einmal in der Patio des Beverly Hills Hotel ehrfurchtsvoll dessen Stammplatz gezeigt. Ob der Hundertste in den USA denn gebührlich gefeiert würde, wollte ich wissen? Nein, überhaupt nicht, alle Welt freue sich schon auf den von Frank Sinatra. Welles würde als Jemand angesehen, bei dem man das Gefühl habe, schon alles von ihm zu kennen. Das ist natürlich völliger Unsinn, wenn man nur an die zahllosen legendären, dank widriger Umstände und eigenem Mutwillen unvollendeten Regiearbeiten denkt. Sie bergen immer noch das Versprechen, ein Welles-Freund wie Peter Bogdanovich würde sie eines Tages doch noch rekonstruieren. Oder Stefan Drößler vom Münchener Filmmuseum, der sich unermüdlich um Welles' Nachlass kümmert, den seine Institution zehn Jahre nach dessen Tod erhielt. Seit ein paar Monaten geistert die Ankündigung durch die Filmwelt, »The other Side of the Wind« würde endlich fertiggestellt. Gerade erst ist in den USA ein Buch darüber erschienen. Das könnte heiße Luft sein. Anscheinend ist die Rechte- und Materialfrage noch immer ungeklärt. Und es scheint, als würde der Rest der Welt daran größeres Interesse nehmen als die Heimat des Filmemachers. Im deutschsprachigen Raum jedenfalls darf ich auf mindestens zwei große Retrospektiven hinweisen. Im Österreichischen Filmmusem läuft ab Freitag eine Reihe, die Welles elegant zusammenschnürt mit zwei anderen Hollywoodaußenseitern, die wie er in Wisconsin geboren wurden, Nicholas Ray und Joseph Losey. ("Das muss am Gras liegen, die Kühe geben offenbar gute Milch", meinte Bob, als ich ihm davon berichtete. Dabei ist der Staat eher für seine Wälder bekannt.) Und im Juli läuft in München im Filmmuseum eine Werkschau, die sich den verborgenen Seiten des Regisseurs widmet und mit den Schätzen des eigenen Archivs prunken kann. Bis dahin ist noch Zeit. Unterdessen wünsche ich uns, dass zum morgigen Jubiläum ein paar schöne Würdigungen in den Feuilletons erscheinen.

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