Ohren auf!

"Ich kannte das alte Wien von vor dem Krieg nicht..." In einem weltläufigen Tonfall, als würde er einem Fremden nachts in einer Bar eine Anekdote erzählen, macht uns die Stimme eines Schmarzmarktschiebers zu Beginn von der Der Dritte Mann mit dem Schauplatz vertraut. Dazu sehen wir Impressionen von einer Stadt, deren einstiger Glanz in Trümmern liegt.

Der Erzähler bleibt anonym, im Verlauf des Films werden wir ihn nie zu sehen bekommen. Und dennoch stimmt seine Stimme uns trefflich ein auf das Klima von Doppeldeutigkeit und Korruption, von Täuschung und Verrat. Er wirkt wie ein dubioser und doch merkwürdig zuverlässiger Gewährsmann des Publikums. Im Original spricht Regisseur Carol Reed diesen Prolog - den er übrigens selbst und nicht Graham Greene, der eigentliche Drehbuchautor des Films, geschrieben hat. Verstohlen mischt sich der Regisseur in die Erzählung ein und gibt einen Ton ironischer Abgeklärtheit vor.

Als ich vor einigen Jahren ein Radiofeature zum 100. Geburtstag des Regisseurs produzierte, war unsere Cutterin ganz vernarrt in den verschmitzt-unternehmungslustigen Duktus, in dem er die Eröffnung sprach. Sie war überglücklich, dass wir nicht nur die Synchronfassung, sondern auch das Original einspielten: "I never knew the old Vienna before the war..." Etliche Male hörte sie sich diese Stelle an. In der US-Fassung wird der Kommentar übrigens von Joseph Cotten, dem Darsteller des eigentlichen Erzählers Holly Martins gesprochen – der Co-Produzent David O. Selznick, der seinen Landsleuten eine etwaige Irritation ersparen wollte, bestand darauf.

Natürlich erinnern Sie sich: Martins, ein etwas naiver Autor von Groschenromanen sucht in Wien seinen alten Freund Harry Lime und muss entdecken, dass der gerade bei einem mysteriösen Verkehrsunfall ums Leben kam und überdies ein rücksichtsloser Schmuggler von unreinem Penizillin war. Der dritte Mann verwurzelt sein Drama der verlorenen Illusionen fest in der klandestinen Kartographie vom Wien des Jahres 1948. Es gibt nur wenige Filme, die eine so tiefe Resonanz herstellen zwischen ihrem Schauplatz und dem Seelenzustand ihrer Charaktere. Man glaubt, im Kinosaal die Abwässerkanäle riechen zu können, durch die Harry Lime vor der Polizei und dem eigenen Gewissen flüchtet. Man spürt hautnah die Atmosphäre von Angst und Misstrauen. Es ist eine Geisterstadt, aufgeteilt in vier Besatzungszonen, zwischen denen sich Lime freizügig bewegt. Die sentimentale Zither-Musik von Anton Karas bildet einen reizvollen Kontrast zum düsteren Bild, das der Film entwirft. Das Fremdenverkehrsbüro beklagte dies seinerzeit bitterlich. Heute sind die Drehorte zu Touristenattraktionen geworden. Es gibt Führungen auf den Spuren Harry Limes. Dem Film ist ein eigenes Museum gewidmet. Er läuft an jedem Wochenende in einem alten Kino.

Wir gehen in der Regel davon aus, einen einmal gesehenen Film zu kennen. Wir nehmen ihn als unveränderlich wahr. Tatsächlich existieren von Der Dritte Mann jedoch diverse Fassungen. Die erste deutsche Synchronisation von 1949 kürzte oder veränderte einige Passagen, vor denen sie das bundesrepublikanische Publikum kurz nach dem Krieg verschonen wollte. Das war damals so: Den Geschmack an der Zensur hatte man mit dem Ende der Nazizeit nicht verloren. 1963 wurde er von Atlas neu synchronisiert. Das ist wahrscheinlich die Version, die Sie und ich kennen. Die ursprüngliche Synchronisation galt als verschollen, bis sie 2008 wieder aufgefunden wurde. Erstaunlich, wie unterschiedliche die Rollen besetzt wurden: Zunächst sprach der knorrige Friedrich Joloff den Harry Lime (Orson Welles), dann der gemütliche Untertan Werner Peters.

Bis vor einigen Tagen wusste ich nicht, dass der Film hier zu Lande noch einer Fassung für ein ganz anderes Medium existiert: Wenige Monate nach dem Kinostart wurde die deutsche Tonspur zu einem Hörspiel verarbeitet. Der Produzent Alexander Korda überließ sie zu diesem Zweck Radio Bremen. Das wäre heute undenkbar, zumindest unbezahlbar. Ohnehin scheint es mir ein einmaliges Phänomen, dass der Lichtton eines Films über den Äther ging. Gibt es weitere Beispiele? Auf einschlägigen Internet-Foren könnte man es womöglich erfahren.

Bereits vor einigen Jahren wurden die Bänder wiederentdeckt. Morgen (Freitag, der 9. 1.) wird das Hörspiel um kurz nach 22 Uhr auf SWR 2 in der Reihe "Tödliche Klassiker" ausgestrahlt. Einen deutschen Fernsehkrimi kann man in der Regel mühelos mit geschlossenen Augen verstehen. Dass dieser Film ohne seine Bilder funktioniert, kann ich mir rein gar nicht vorstellen. Robert Kraskers barocke Licht- und Kameraführung verwandelt die Wien in eine morbide Szenerie, die der Schattenwelt des Film noir verwandt ist: ein Zerrspiegel der Nachkriegsverzweiflung und existenziellen Tristesse. Wie könnte Harry Lime überhaupt Charisma gewinnen ohne das Antlitz von Orson Welles? (Im anglo-amerikanischen Sprachraum tat er es: Da sprach Welles eine ganze Serie von Lime-Hörspielen ein.) Auf Joseph Cotten mag man jederzeit verzichten, aber nicht auf die Schwermut von Alida Valli. Überdies ist die Rundfunkbearbeitung von Klaus-Dieter Klingberg gut eine dreiviertel Stunde kürzer als der Kinofilm. Auf Anton Karas' Zither wird sie gewiss nicht verzichten. Und bestimmt nicht auf Harry Limes sarkastischen Dialog über Demokratie und Kukucksuhren im Prater-Riesenrad, während dessen er verächtlich herabblickt auf die Menschen, die von oben nur wie Insekten wirken. Aber wie ließe sich die lange Schlussszene am Zentralfriedhof in dieses Medium übertragen, mit ihrer tiefenscharfen Einstellung von Valli, die aus der Ferne kommt und dann wortlos an Cotten vorbeigeht? Trotz aller Skepsis brenne ich vor Neugierde. 

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