Nicht versöhnt

Bis vor einigen Jahren verfügte der Westdeutsche Rundfunk über eine bedeutende Filmredaktion. Sie verantwortete ein anspruchsvolles, einfallsreiches und unterhaltsames Programm, dem gute Quoten beschert waren. Dokumentarfilmer aus aller Welt schätzten sie als Co-Produzenten. Es war eine Insel der Seligen, bis in den späten 90er Jahren ihr Budget massiv beschnitten wurde, weil der Sender Geld für die Seifenoper Die Arnheiner brauchte. Die habe ich mir, schon aus Protest, nie angeschaut. Im Laufe der Zeit dünnte die Redaktion aus Altersgründen immer weiter aus. Heute ist sie nicht einmal mehr ein Schatten ihrer selbst.

In ihren Glanzzeiten war sie besetzt mit einer Reihe gestandener Exzentriker. Einen unter ihnen wiesen Erscheinung und Wesensart als heiter ergrauten Alt-68er aus. Nicht nur aus demographischen Gründen wird man Seinesgleichen heute im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wohl vergeblich suchen. Die alte Flamme loderte nach dem Marsch durch die Institution weiterhin. Es bereitete ihm beispielsweise ein diebisches Vergnügen, an jedem 1. Mai einen Gewerkschaftsfilm ins Programm zu nehmen. Meist war das Fist von Norman Jewison, in dem Sylvester Stallone einen Rädelsführer spielt, zur Abwechslung auch mal Norma Rae. Die Filmredaktion des Norddeutschen Rundfunks bewies in diesen heroischen Zeiten ein noch größeres Geschichtsbewusstsein. Ich meine mich zu erinnern, dass sie zu diesem Datum einschlägige Stummfilme von Eisenstein und Hochbaum ausstrahlte. Derlei lässt sich heute in den Programmzeitschriften nicht mehr entdecken. An diesem Freitag ist Heinz Rühmann in zwei dezidiert unproletarischen Rollen zu sehen: als Quax, der Bruchpilot (NDR) und als Pater Braun (WDR). Am Tag der Arbeit agitatorische Dramen im Nachmittagsprogramm zu platzieren, barg ohnehin immer ein gewisses Risiko, denn eigentlich müsste deren Klientel den Anlass auf Kundgebungen begehen.

Trotz aller Unkenrufe ist die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland noch nicht völlig obsolet geworden. Die Streikbereitschaft, zumal der Lokführer, hat im letzten Jahr vielmehr einen Furor und Langmut entwickelt, auf die man in Frankreich stolz wäre. Bei dem Boykott des Marvel-Gipfeltreffens Avengers 2 - Age of Ultron handelt es sich zwar nicht um einen Arbeitskampf im traditionellen Sinne. Niemand legt die Arbeit nieder. Ein Streik ist es aber schon, dem sich rund zweihundert Kinos mit etwa 700 Sälen aus Protest gegen die Geschäftsbedingungen angeschlossen haben, die ihnen der Disney-Konzern diktiert. Bisher zahlten Kinobesitzer in größeren Städten 53 % ihrer Einnahmen an den Verleih und die in Standorten mit unter 50000 Einwohnern einen Satz von 47,7 %. Diesen Nachlass will Disney nun nicht mehr gewähren. Die zusätzlichen 5,3 % bedeuten für Kinobetreiber in der Provinz jedoch eine nicht unerhebliche Belastung. Zwar haben sich die Avengers trotzdem an die Spitze der Kinocharts katapultiert und sogar mehr Eintrittskarten verkauft als der erste Teil an seinem Startwochenende. Aber den empörten Kinobesitzern ist es gelungen, ein Zeichen zu setzen, das auch international wahr genommen wurde.

Der Widerstand hat sich im Netz formiert, nicht im Schutz eines offiziellen Interessenverbandes. Einzelkämpfer stemmen sich mit solidarischer Risikobereitschaft gegen den Lauf der Dinge. Auf den Blockbuster der Woche zu verzichten, verlangt schon ein gerüttelt Maß an Selbstbewusstsein. Aber vielleicht lassen die Kinobetreiber sich unter diesen Bedingungen ein nur vermeintlich gutes Geschäft entgehen. Der Leidensdruck muss jedenfalls groß sein, wenn Geschäftsleute zu einem solchen Schritt bereit sind. Wenn ich mich nicht täusche, gab es vor einigen Jahren schon einmal den Boykott eines Blockbusters auf ähnlich breiter Ebene (oder zumindest dessen Androhung; die Resonanz war jedenfalls längst nicht so groß wie diesmal), als Kinobesitzer ihre Einnahmen durch die Ankündigung des Verleih bedroht sahen, den Film schon in drei statt in sechs Monaten auf DVD herauszubringen. Der nächste Konflikt ist schon abzusehen, wenn Disney die nächste Star Wars-Episode herausbringt. Das Einspiel aus 700 Sälen lässt sich nicht als Peanuts kleinreden. Auch in Gewerkschaftsfilmen kämpft ja nicht einfach nur ein mickriger David gegen Goliath. Aber wie das erste Wochenende der Avengers zeigt, geht es womöglich auch ohne. Für die Kinobetreiber beginnt jetzt eine andere Rechenaufgabe: Was haben sie an deren Alternativen verdient? Von Zuschauerprotesten in der Provinz war bislang noch nichts zu lesen.

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