arte-Mediathek: »Plötzlich alles anders«

»Plötzlich alles anders« (Miniserie, 2022). © Jo Voets / De Mensen / arte

»Plötzlich alles anders« (Miniserie, 2022). © Jo Voets / De Mensen / arte

Die unerträgliche Flüchtigkeit des Seins

Das junge Paar ist an diesem 22. März in bester Stimmung. »Was wäre ich ohne dich?«, fragt er liebevoll. Ihre spitzbübische Gegenfrage: »Glücklich vielleicht?« Unbeschwerte, hoffnungsfrohe und flüchtige Momente. Samira arbeitet bei der Brüsseler Flughafenpolizei. Die argentinische Thekenkraft am Kaffeestand ist eine Freundin. Die Frauen scherzen, Samira geht ins Freie. Dann kracht es, die Erde bebt. Selbstmordattentäter haben zwei Bomben gezündet. Samira ist dem Tod knapp entgangen und nahezu unverletzt.

Schnitt. Eine Woche später. Samira schreckt aus dem Schlaf. Die schrecklichen Ereignisse verfolgen sie. Im Kleiderschrank hängt ihre Dienstkleidung. Sie ist voller Staub. Sie fährt wie gewohnt zur Arbeit. Der Flugverkehr ist eingestellt, Militär kontrolliert die Zufahrten. Viele Kollegen sind dienstunfähig. Einer liegt im Krankenhaus. Ihm wurde der Unterschenkel abgerissen. Samira übernimmt die Aufgabe, die zurückgelassenen Gepäckstücke und Utensilien zu sortieren und nach Möglichkeit den Besitzern wieder zukommen zu lassen. Einige Überlebende und Hinterbliebene werden von sich aus vorstellig.

Der mehrdeutige Originaltitel der Serie lautet »Lost Luggage«. Anhand von Gepäck- und Erinnerungsstücken werden Schicksale von Betroffenen erzählt. Das sechsköpfige Autorenteam springt zu Beginn jeder Folge zurück zum 22. März, nimmt jeweils einen neuen Erzählfaden auf, folgt einer anderen Figur. Oft kreuzen sich deren Wege. Manchmal entscheiden kleine Begebenheiten über das Schicksal. Ein verschütteter Kaffee, der Gang zur Toilette – Samira Laroussa bleibt die Konstante. Ihre Geschichte wird konsekutiv weiterentwickelt. Der ohnehin schon mitgenommenen jungen Frau gehen die Begegnungen mit den Opfern des Anschlags sehr nahe. Sie spendet Trost und trägt dabei eigenen Schmerz im Herzen, reagiert aufbrausend, wenn Kollegen die Fundsachen acht- und Betroffene gefühllos behandeln, wenn die Zustellung aus Personalmangel eingestellt werden soll. Eigensinnig, fast verbissen erfüllt sie ihre Aufgabe, übernachtet sogar in der Lagerhalle.

»Plötzlich alles anders« fußt auf den realen Bombenanschlägen von 2016. Die Handlung ist erfunden. Erdacht wurde die Serie von Tiny Bertels, die vor allem als Schauspielerin bekannt ist und als solche auch mitwirkt. Heikle Sujets wie Schock, Verlust, Trauer, Seelenpein werden mit Feingefühl bewältigt. Die Autorengruppe erzählt mit Bedacht, beweist Mut zur Ellipse und kommt doch den Figuren – auch in der Kameraführung – ganz nahe. Ein Wagnis, aber klug gemeistert sind die Anflüge von Humor. Und es entwickelt sich eine der wohl berührendsten Liebesgeschichten der letzten Jahre.

In einer Halle am Brüsseler Flughafen warten auch heute noch Koffer und Spielzeuge auf ihre Besitzer oder deren Angehörige.

OV-Trailer

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