Buch-Tipp: Handbuch Filmgenre

»Der begossene Gärtner« (L'arroseur arrosé, 1895)

»Der begossene Gärtner« (L'arroseur arrosé, 1895)

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Mit fast 700 Seiten ist das »Handbuch Filmgenre«, herausgegeben von dem in Mainz lehrenden Film-Professor, Publizisten (und epd Film-Autor) Marcus Stiglegger schon äußerlich ein ziemlicher Brocken. Sieben Jahre Arbeit sind in das Werk geflossen, 38 Autoren, überwiegend Lehrende an Hochschulen, haben Beiträge geliefert. Stigleggers Anspruch, Geschichte, Ästhetik und Theorie dieses zentralen Ordnungsbegriffs der Filmforschung umfassend darzustellen, macht den Band zu einem Solitär nicht nur im deutschen Sprachraum. Und, um es vorwegzunehmen, er wird diesem Anspruch vollauf gerecht. Obwohl er sich in erster Linie an Leser aus der Wissenschaft richtet, bietet er auch anderen Filminteressierten eine höchst anregende, bisweilen überraschende Lektüre.

Wir alle glauben, relativ genau zu wissen, was ein Western oder ein Horrorfilm ist. Das Konzept Genre bietet Schubladen, um Filme mit Blick auf ihr Thema, ihren Plot, ihre Grundstimmung, ihre Form oder auch ihr räumliches und historisches Setting einzuordnen. Das Genrekino als vermeintlich verlässlichen Faktor der Filmgeschichte allerdings stellt Marcus Stiglegger in seinem Vorwort zur Diskussion: »Sind klare Genredefinitionen noch sinnvoll und haltbar? Ist der Begriff des Genres in diesem Kontext noch produktiv«?

Man muss nicht die Dichotomie Genre versus Auteur aufmachen, um festzustellen, wie fragwürdig starre Konzepte von Genrekino sind. Auch die Kriterien, anhand derer wir Einzelgenres identifizieren, sind reichlich heterogen: Sind beispielsweise Kriegsoder Kriminalfilm inhaltlich definiert, so fragen der Horrorfilm und die Komödie nach der intendierten Affektwirkung beim Zuschauer. Und schon bei der Abgrenzung von Genre und Gattung (als allgemeinere Klassifizierung, etwa als Spiel- oder Dokumentarfilm) wird man in der Praxis auf Fragezeichen stoßen. Es sind aber insbesondere jüngere kinematografische Entwicklungen, allgegenwärtige »Transformationen und Hybriditäten«, die eine Neueinschätzung des Begriffs erfordern.

Dieser widmet sich das »Handbuch Filmgenre« zunächst mit einer Zusammenfassung des Genrediskurses sowie einem spannenden Aufsatz von Klaus Kreimeier zur Entstehung von Genres in der frühen Filmgeschichte. Der zweite Teil des Buchs widmet sich in drei Texten der »Definition & Begriffsgeschichte«. Im mehr als 200 Seiten umfassenden dritten Teil wird aus verschiedenen Warten die Genretheorie beleuchtet. Die elf Texte reichen dabei von Themen wie »Genredramaturgie« (Lars R. Krautschick) über »Genre und Gender« (Irina Gradinari) bis hin zu »Transtextuelle Beziehungen zwischen Genrefilmen« (Sofia Glasl). In Bezug auf das postklassische Kino und aktuelle Entwicklungen bieten beispielsweise Martin Urschels Beitrag »Genre und Performativität« und Florian Mundhenkes Text über »Hybride Genres« besonders aufschlussreiche Lektüre. Teil vier des Buchs nimmt historische und lokale Perspektiven ein. So zeichnet Anja Peltzer sehr anschaulich nach, wie Genres das Hollywoodkino prägten und wie sie sich – stets im Spannungsfeld von Ästhetik und Ökonomie – bis hin zum aktuellen Blockbusterkino entwickelten. Weitere Beiträge weiten den Blick auf weniger beachtete Regionen wie Indien und Afrika und zeigen, wie vielfältig und individuell die Genrelandschaften auch dort sind. Kai Naumann sortiert »Genres im deutschen Nachkriegskino« wie den Heimatfilm oder den Edgar-Wallace- und Karl-May-Film und ordnet sie in internationale Zusammenhänge ein.

Mit 250 Seiten ist der fünfte Teil des Buchs der umfangreichste und auch der anschaulichste, mithin unterhaltsamste: Die »Filmgenres in Einzelstudien. Motive, Standardsituationen und Transformationen« widmen sich in 14 Einzelbetrachtungen prägenden Genres vom Western bis zum erotischen und pornografischen Film. Sie bieten gute Überblicke und konzentrierte Analysen bei teils unterschiedlicher Gewichtung und Detailfülle. Die Fluidität der Genres wie unserer Genrebetrachtung wird hier auch an eher zufälligen Überschneidungen deutlich, wenn etwa der kaum eine Minute lange Streifen »L'arroseur arrosé« (Der begossene Gärtner) der Gebrüder Lumière über einen Gartenschlauchstreich einmal unter dem Gesichtspunkt des Suspense (im Beitrag über Thriller), ein anderes Mal unter dem Gesichtspunkt der Komödie analysiert wird.

Die Systematik des Bandes wie auch die Qualität der Beiträge ist auf ganzer Linie überzeugend. Zudem sind die Texte trotz ihres hohen wissenschaftlichen Anspruchs allesamt gut lesbar. Und angesichts seiner vielen verschiedenen Perspektiven und Autoren gelingt dem »Handbuch Filmgenre« eine erstaunlich konzise Darstellung seines Gegenstands. Das macht es ohne Zweifel zum Standardwerk, das man sicher immer wieder gern zur Hand nimmt. Die eröffnende Fragestellung nach der Produktivität des Begriffs Genre ist jedenfalls zu bejahen – vorausgesetzt, man klammert sich nicht an starre Kategorien, sondern verwendet ihn als flexibles und stets neu zu justierendes Mittel der Verständigung über höchst wandelbare Phänomene.

 


Marcus Stiglegger (Hrsg.): Handbuch Filmgenre. Geschichte – Ästhetik – Theorie. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2020. 690 S., 99,99 € (E-Book), 129,99 € (Hardcover).

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