Zurück ins Kino: Das Wunsch-Comeback

»Black Swan« (2010). © 20th Century Fox

»Black Swan« (2010). © 20th Century Fox

Im Lockdown haben wir Filmgeschichte aufgearbeitet. Aber in XXL wäre das alles schöner gewesen. Unsere Autoren über Filme der 2000er, die sie gern wieder auf der Leinwand sehen würden

»Black Swan«, 2010 

Obsessionen auf einem schmalen Grat zwischen Entschlossenheit und Wahnsinn, das ist das große, durchaus selbstreflexive Thema von Darren Aronofsky. Nach dem Computerhacker im Debüt Pi, der tablettensüchtigen Frau in »Requiem for a Dream«, dem Wissenschaftler in »The Fountain« und dem »Wrestler« gilt das auch für die von Natalie Portman gespielte Ballerina in diesem düsteren Psychothriller-Horrormärchen. Aronofsky und sein Kameramann Matthew Libatique ziehen den Zuschauer in die subjektiv verzerrte Welt der jungen, ehrgeizigen Ballerina Nina hinein, in den delirierenden Strudel ihres Tanzes, schlingernd zwischen Wahn und Wirklichkeit, in den Sog ihrer Ängste und Alpträume. Der Druck ist überwältigend, die eigenen hohen Ansprüche, die Erwartungen der besitzergreifenden Mutter, die konkurrierenden Tänzerinnen, der Choreograf (Vincent Cassel),  der ihr die dunklen Abgründe des schwarzen »Were-Swans« nicht zutraut, während der schon längst von ihr Besitz ergriffen hat, in Form der schimmernden Flügel, die aus ihrem Rücken wuchern. So eindrucksvoll und mitreißend, verstörend und faszinierend kann man nur im Kino in die subjektive Wahrnehmung eines anderen Menschen eintauchen.  

Anke Sterneborg

»Holy Motors«, 2012

Am 6. Juli wird das Festival von Cannes mit Léos Carax’ sechstem Spielfilm »Annette« eröffnet. Das allein wäre ein Anlass, sich noch einmal den Vorgänger »Holy Motors« im Kino anzusehen. In Zeiten, in denen eine Pandemie den Filmen ihre Orte geraubt und sie in die Weite des globalen Netzes gedrängt hat, entwickelt diese rätselhafte Ode an die Kraft der Filmbilder und den Zauber der (schauspielerischen) Verwandlung jedoch noch eine ganz andere Bedeutung. Mitzuerleben, wie der von Denis Lavant gespielte Monsieur Oscar in einer weißen Stretchlimousine durch Paris gefahren wird, wie er mit Kylie Minogue durchs leere Kaufhaus »La Samaritaine« tanzt oder Eva Mendes in die Kanalisation entführt, ist berauschend. Carax’ grandiose Bilder, die zu Beginn aus dem Unbewussten des von ihm selbst gespielten »dormeur« aufsteigen, erinnern daran, dass das Kino schon immer der schönste Ort zum Träumen war. Seine flüchtigen Visionen setzen sich in unseren Gedanken fest. Genau darauf setzt Carax. Sein Film beginnt nicht nur im Kinosaal – er lockt uns zurück in die Kinos, auf dass wir dort von einer anderen Gesellschaft und einem anderen Leben träumen.

Sascha Westphal

»Wendy«, 2020

Viele neue Filme, die 2020 auf die Fernsehschirme verbannt wurden, hätten eine Veröffentlichung auf der großen Leinwand verdient, keine Frage. Besonders beklagenswert aber ist das beinahe gänzliche Verschwinden von »Wendy«, dem bildgewaltigen Zweitwerk des amerikanischen Regisseurs Benh Zeitlin. Nach dem Erfolg seines Debüts »Beasts of the Southern Wild« hätte man eigentlich damit rechnen können, dass Zeitlins neuer Film auf gewisses Interesse stoßen würde; dennoch verschwand der Film selbst für Pandemieverhältnisse sang- und klanglos in der Versenkung.

Dabei ist diese kühne Neuinterpretation der bekannten »Peter Pan«-Geschichte ein hinreißender Jugendfilm, wie sie heute leider 
immer seltener werden. Die detailverliebte Ausstattung, die auf CGI weitgehend verzichtet, sowie die mysteriöse, teils düstere Abenteuerstimmung erinnern an die großen Zeiten von Regisseuren wie Terry Gilliam und Steven Spielberg. Wie mit seinem Vorgänger gelingt Zeitlin erneut eine visuell berauschende Coming-of-Age-Parabel im Stil des magischen Realismus, die ihre jungen ProtagonistInnen durchweg ernst nimmt. Holt Wendy zurück ins Kino!

Tim Lindemann

»Die fabelhafte Welt der Amélie«, 2001

Ein Passbildautomat als Orakel. Eine koboldartige Frau mit neckischem Pixie Cut, die das Leben der anderen zurechtbiegt. Und ein nostalgisches Paris, das, untermalt von dem bittersüßen Klavierstück »Comptine d’un autre été«, in goldgelbem Licht erstrahlt. »Die fabelhafte Welt der Amélie«, Jean-Pierre Jeunets Geniestreich von 2001: Das ist der Film, den ich sehen möchte, wenn die Kinos nach diesem endlosen Lockdown wieder öffnen.

Mit seinem Füllhorn liebevoll skurriler Charaktere und seiner verschwenderischen Vielfalt explodierender Miniaturgeschichten erschuf Jeunet einen Solitär im Kino. Traumwandlerisch sicher verknüpft der Film Lady Di mit Renoir und absurden found footage-Szenen. Wer erinnert sich noch an das durchgebrannte Pferd, das sich bei den Radfahrern der Tour de France einreiht?

Dabei erzählt »Die fabelhafte Welt der Amélie« ja eigent­lich »nur« eine Liebesgeschichte. Das aber mit Herz und Verstand, mit Kalauern und Zensprüchen, die einem ein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gehen: »Wenn ein Finger zum Himmel zeigt, schaut nur ein Dummkopf den Finger an.« Und wenn Amélie im Kino läuft, bleibt nur ein Dummkopf zu Hause.

Manfred Riepe

»Mad Max: Fury Road«, 2015

Wie kommt man aus dem Lockdown? Trostbedürftig, erschöpft, erleichtert? George Millers Variation auf sein altes Franchise ist ein Film für die, die wütend sind und nicht glauben, dass man einfach zum präpandemischen Leben zurückkehren kann. »Fury Road«, das ist eine irrwitzige metaphorische Hochstapelei: ein Rennen zum Tode im Endstadium der Klimaerhitzung, die Autogesellschaft, die sich grölend und selbstbesoffen an die Wand fährt, ein battle of the sexes mit den Mitteln des Macho-Kinos. Miller inszeniert das so einfallsreich und raffiniert, mit Technosound und poetischen Randbemerkungen, dass man denken könnte: Krach, Krawall und Immersion waren doch nicht die schlechtesten Ideen des Blockbustergeschäfts. Am Ende aber gewinnen die Frauen, die nicht nur kämpfen und fahren können, sondern die wahren Kulturtechniken beherrschen: Nähen, Säen, Kinder aufziehen. Also doch ein Hauch von Trost.

Sabine Horst

»Die Rückkehr«, 2003

Als die beiden Brüder nach Hause kommen, sagt die Mutter, sie sollen ruhig sein, da der Vater gerade schlafe. Es ist ein Vater, den sie eigentlich gar nicht kennen, weil er zehn Jahre weg war. Und zu dem sie nie ein Gefühl der Nähe entwickeln werden und können, obwohl er sie mitnimmt auf eine Reise, die die drei zu einer abgelegenen Insel in Nordrussland führt. Es ist eine einfache, archaische, parabelhafte, gleichnishafte, auf alle Fälle vieldeutige Begegnung. Man hat nach diesem Film viel von seiner Spiritualität gesprochen, von der Isaak-Geschichte. Wie ausgeliefert an die in Totalen aufgenommene Landschaft wirken die Figuren im Debütfilm des Russen Andrej Svjaginzev, oft kleine Punkte in der unbewohnten, leeren Gegend. Wasser spielt, wie bei Tarkovskij, eine wichtige Rolle in diesem leisen und doch wuchtigen Film. Und wer ihn auch nur einmal gesehen hat, den werden seine Bilder nicht loslassen, etwa wenn die beiden Brüder mit dem toten Vater über den See rudern. Wird Zeit, »Die Rückkehr« mal wieder auf der großen Leinwand zu sehen. Am besten in 35 mm. 

Rudolf Worschech

»Spring Breakers«, 2012

Nachdem der Strandurlaub dem Spaziergang im Stadtpark weichen musste, ist ein Kinotrip in die USA genau richtig: »Spring Breakers«, ein ekstatisches Filmpoem zwischen schrillen Beach Partys und neondurchleuchtet-finsteren Floridanächten. Die Figuren, die Kostüme, die Gewalt, die irrwitzigen Monologe von James Franco – alles ist »bigger than life«. Der Film macht einen ganzen Kosmos auf. Francos Platinzähne erinnern an Ritterrüstungen und Terminatorskelett, mit Dreadlocks und Bart hat er aber auch etwas vom bösen Wolf, der die frivol-kriminellen Spring-Breakerinnen in seine Höhle lockt. Man hat inzwischen fast vergessen, dass die Darstellerinnen dieser »bösen« Mädchen aus dem Disney-Kosmos­ kamen und in den knappen Bikinis, mit großen Knarren und schockierender Gewaltlust gegen ihre Kinderstar-Images anspielten. ­So wie Harmony Korine mit jedem Film gegen seinen eigenen Vornamen zu rebellieren scheint. Ein Zyniker ist er aber nicht, und am stärksten sind die zärtlichen Momente des Films, die immer wieder aufblitzende Wärme der Figuren, gerade bei Francos Gangster, der sich Alien nennt, am Ende aber eine zutiefst menschliche Todesangst zeigt. Auch das passt irgendwie, gerade jetzt.

Kai Mihm

»Wall-E«, 2008

Brauchen wir wirklich noch mehr Filme mit lustigen kleinen Robotern? Noch mehr vom Schlage R2-D2, C-3PO oder »Nr. 5«? Das war meine erste Reaktion, als ich den Trailer für »Wall-E« sah. Welch ein Irrtum! Gleich die ersten Bilder des Films belehrten mich eines Besseren. Eine vermüllte und verwüstete Erde, von den Menschen, die es sich leisten können, verlassen für ein gigantisches Raumkreuzfahrtschiff (auf dem sie immer fetter und apathischer werden). Doch »Der Letzte räumt die Erde auf« (so der deutsche Titelzusatz). Das ist Wall-E, ein kleiner, aber effizienter Müllroboter, der Tag für Tag dasselbe tut. Dabei könnte man ihm stundenlang zusehen, beim Aufbewahren von Dingen, die seine Neugier erregen, bei den Blickwechseln mit seinem einzigen Ansprechpartner, einer Küchenschabe – Worte sind nicht notwendig. Worte sind nicht möglich, als EVE auf der Erde abgesetzt wird, ein Forschungsroboter, weiß schimmernd und schon damit äußerlich das Gegenteil von Wall-E. Mögen wir, wenn die Pandemie vorüber ist, nicht so deformiert sein wie die Menschen in diesem Film.

Frank Arnold

»Midsommar«, 2018

Ein Sommerfilm. Das Leben findet wieder draußen statt. Unter der verschwenderischen Sonne Schwedens können sich die Körper hochgemut der freien Natur aussetzen. Die Amerikaner dürfen sich umarmt fühlen von der Wärme, der Landschaft und ihren rustikalen Gastgebern. In Danis Drogenträumen nimmt die Flora bereits Besitz von ihr. 

Es fing im Winter an, voller Dunkel und Entsetzen, die als Menetekel fortdauern. Dem Weg ins Licht ist nicht zu trauen. Denn auch in der hellen Idylle vollzieht sich eine Katastrophe in Zeitlupe, in unvorstellbar langen und zielstrebigen Plansequenzen. Dieses Tempo würde ich gern auf der großen Leinwand neu erleben; bisher habe ich Ari Asters Film nur auf Blu-ray gesehen. Verstreicht die Zeit dort noch langsamer? Wie verändert sich die Weite des Ortes, wie klingen die Stille und der heitere Lärm der heidnischen Gemeinschaft? Ahnen wir früher, welches Verhängnis bevorsteht? Eins steht fest: Das »Willkommen zu Hause«, das am Ende Danis Schicksal besiegelt, ist Schrecken und Befreiung zugleich.

Gerhard Midding

»Das Leben ist ein Fest«, 2018

Zivilisation ist, wenn Menschen sich in einer Zahl, die über die nächsten Stammesangehörigen hinausgeht, friedlich zu versammeln in der Lage sind. Umso schöner, wenn der Grund des Treffens eine Hochzeit im Barockschlossambiente ist, mit dem Ziel, die Gäste nach allen Regeln der Kunst zu beeindrucken: vom mehrgängigen Menü über Tanz und Feuerwerk bis hin zu dem im Ballon davonschwebenden Bräutigam. 

In dieser Ensemblekomödie richtet das Duo Éric Toledano/Olivier Nakache (»Ziemlich beste Freunde«) die ziemlich beste Hommage an die Kunst des Feierns an. Denn sie schildern das Hully Gully aus der Sicht des in der Corona-Krise besonders gefährdeten Berufsstandes der Eventveranstalter, jener Menschen, die nicht nur Champagner nachschenken, sondern sich schwer ins Zeug dafür legen, dass alles klappt. Im Mittel­punkt steht der melancholische patron Max – der kürzlich verstorbene Jean-Pierre Bacri –, der zwischen launischen Angestellten und Gästen das Chaos zu bändigen versucht. Tatsächlich ist dieser film choral wie ein mehrstimmiger Chor orchestriert, in dem trotz einiger tiefergelegter Gags die Figuren nie an den Klamauk verraten werden. Und so wird die Partychronik unversehens zur Metapher auf das Leben selbst, zum Hohelied auf alle, die zwischen Plan und kreativer Abweichung ihren Weg suchen.

Birgit Roschy 

»Mulholland Drive«, 2002

Welche Ironie, dass dieses Werk – viele sagen, David Lynchs bestes – zuerst der Pilotfilm einer TV-Serie war. Aus der wurde nichts, »Mulholland Drive« aber verwandelte sich dank neuer Produzenten und umfangreicher Nachdrehs in einen Traum von Kinofilm, voller magischer, dunkel-glühender Bilder und enigmatischer Wendungen. Es beginnt mit einem Auto­unfall auf der legendären Straße, die über die Hügel Holly­woods mäandert wie die folgende Geschichte. Um eine junge Schauspielerin geht es, die voller Hoffnungen in die »Traumfabrik« kommt, an deren harter Realität und einer tragischen Liebe aber schließlich zerbricht. Die Mythen und die Abgründe Hollywoods sind also Thema. Aber was da genau geschieht, ist kaum in Worte zu fassen: Identitäten wechseln, Realität und Traum sind in diesem wunderbaren Irrgarten in permanentem Übergang und Austausch miteinander. Im Club »Silencio« zeigt der Film dann uns und – welch irrer Dreh! – auch seinen Figuren, dass alles nur Illusion ist. Und doch zieht er unweigerlich in seinen Bann, man muss sich nur dem Fluss des Geschehens und der soghaften Atmosphäre überlassen wie einem Traum. Deshalb ist »Mulholland Drive« auch der ideale Film, um ihn im dunklen Kinosaal gemeinsam mit anderen zu erleben. Gemeinschaftliches Träumen, Kino in Reinform.

Patrick Seyboth

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