Videotheken: Hier steht Filmgeschichte

Über die Zukunft der DVD im Zeitalter des Streamings
»Videodrom« im Bergmann-Kiez in Berlin

»Videodrom« im Bergmann-Kiez in Berlin

Wenn Sie ihr Amazon-Abo kündigen, sind die Filme weg, die Sie da gekauft haben. Nur ein Grund, die letzten, oft gut sortierten Videotheken zu stützen

Der langsame Tod findet im Regionalteil der Tageszeitungen statt. Wer sich einmal die Mühe macht, Zeitungen nach Meldungen über Videotheken zu durchforsten, dem springen Nachrichten vom Sterben der Filmverleih-Branche ins Gesicht. In Mönchengladbach etwa gibt es nur noch eine Videothek, die anderen haben im letzten Jahr dichtgemacht. In Wittlich hat vor kurzem das »Video-Center« geschlossen, in Ahaus im Münsterland der »Videopalast«.

Aber es ist nicht nur die Provinz, die »Fläche«, die videotechnisch vom Sterben bedroht ist, es sind auch die größeren Städte. In Nürnberg etwa hat im letzten Jahr die letzte Videothek geschlossen. Und es sind im Videothekenbereich schon ganze Imperien zusammengebrochen, wenn man es einmal pathetisch formulieren möchte. Am tiefsten gefallen ist die US-Kette »Blockbuster«, die einst über 9 000 Filialen verfügte, davon noch Anfang der 2000er Jahre 5 000 in den USA und 500 in Großbritannien. Heute gibt es nur noch eine Filiale, in Bend, Oregon. Es heißt, es habe ein regelrechter Tourismus eingesetzt, um sie zu besichtigen. Natürlich sind in Deutschland die Verhältnisse nicht so spektakulär wie in den USA, aber auch bei uns gehen ganze Ketten ein. Im Rhein-Main-Gebiet etwa betrieb Ulrich Born einmal 21 Videotheken unter dem Namen »Tomin«. Im April 2017 schloss seine letzte Frankfurter Filiale, im Mai seine letzte überhaupt. Im Stadtgebiet von Frankfurt gibt es heute nur noch eine Videothek, wenn auch eine der besten in Deutschland: die »Video-City« in Bornheim.

Videotheken vs. Video-on-Demand

Die nackten Zahlen bestätigen das Sterben. Hatten zur Jahrhundertwende noch rund 4 500 Videoverleihgeschäfte ihre Türen geöffnet, so sind es in diesem Jahr exakt 601. Auch alle anderen Zahlen sind dramatisch zurückgegangen. Das Leihgeschäft mit physischen Datenträgern reduzierte sich von 359 Millionen Euro im Jahr 2002 (der Großteil waren damals noch VHS-Kassetten) auf 51 Millionen (Blu-ray und DVD) im Jahr 2018. Und: Besuchten 2013 noch 5,3 Millionen Menschen eine Videothek, so waren es 2018 nur 1,3 Millionen, im Jahr zuvor noch 2,3. Der IVD, der Interessenverband des Video- und Medienfachhandels in Deutschland, macht dafür vor allem die Piraterie verantwortlich – wer sich einen Film illegal im Netz angeschaut hat, wird ihn nicht mehr auf DVD oder Blu-ray ausleihen. Aber diese Argumentation basiert, wie übrigens auch im Kinobereich, auf Annahmen und hochgerechneten Zahlen. Nichts Genaues weiß man nicht.

Und die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Denn insgesamt haben sich nach einer Untersuchung der Marktforschungsgesellschaft GfK im Auftrag der Filmförderanstalt (FFA) die Umsätze auf dem Homevideo-Markt von 2000 bis 2018 mehr als verdoppelt – von 934 Millionen auf 2 Milliarden Euro. Und: In zwei Jahren, von 2017 bis 2018, konnten die abonnierten Streaminganbieter ihre Umsätze verdreifachen. Wobei auch das nur mit Vorsicht zu genießen ist – die Branchengrößen Netflix und Amazon gehen sparsam mit Zahlen um. Betreiber von sogenannten Erwachsenenvideotheken sagen, dass der Tod ihres Geschäftes mit der Verlegung von Breitbandkabeln begann. Seitdem muss niemand mehr hinter den Perlenvorhang oder in den Keller gehen, um Pornos, durchaus geschäftsträchtig in den Videotheken, in guter optischer Qualität zu bekommen. Und sicherlich spielt auch die im letzten Jahrzehnt um sich greifende Vom-Sofa-aus-online-bestellen-Mentalität beim Tod der Videotheken eine Rolle.

Es ist offensichtlich, dass Streamingdienste und Video-on-Demand-Angebote die Videotheken in ihrer Existenz bedrohen. Aber man darf sich da als filminteressierter Verbraucher nicht in die Tasche lügen: Filmgeschichte kommt bei den Onlineanbietern eher zufällig vor, wird nicht gepflegt. Vor ein paar Wochen machte die Nachricht die Runde, dass der »beste Film aller Zeiten«, »Citizen Kane«, auf keinem der in Deutschland erhältlichen Streamingportale oder V-o-D-Dienste zu finden ist. Man kann dieses Beispiel auch noch weiterspinnen: Auf der Liste der »100 besten Filme aller Zeiten«, die das American Film Institute (AFI) alle zehn Jahre durch eine Umfrage ermitteln lässt, sind momentan in den Top Ten: »Citizen Kane«, »Der Pate«, »Casablanca«, »Raging Bull«, »Singin' in the Rain«, »Vom Winde verweht«, »Lawrence von Arabien«, »Schindlers Liste«, »Vertigo« und »Der Zauberer von Oz«. Und jetzt raten Sie mal, wie viele Sie davon auf Netflix finden? Keinen. Amazon hat einige, die meisten allerdings müssen Sie, auch wenn Sie Prime-Video-Abonnent sind, leihen oder kaufen. Was übrigens nicht billiger als der Gang in eine Videothek ist. Wobei Leihen bei Amazon bedeutet, dass Sie sich den Film 48 Stunden lang anschauen können. Und kaufen bedeutet noch lange nicht, dass Sie den Film auf ihre Festplatte laden können, er befindet sich dann in Ihrem Account kopiergeschützt auf dem Amazon-Server. Und wenn Sie Ihr Prime-Abo kündigen, das soll ja vorkommen – ist auch der Film futsch.

Wo gibt es eigentlich noch Klassiker?

Die Frankfurter »Video-City« führt alle zehn Top-Ten-Titel der AFI-Hitliste. Und alle auf DVD. Denn es gibt immer noch eine VHS-Sammlung, mit Filmen, die es noch immer nicht auf eine DVD oder eine Blu-ray geschafft haben. Die muss man allerdings ein paar Tage vorher bestellen. Ansonsten kann man das Gros gleich mitnehmen. Vor drei Jahren ist die »Video-City« aus ihren 400 Quadratmeter großen Räumen im Sandweg umgezogen in auf ein Viertel geschrumpfte Räumlichkeiten im Sandweg. Man kann vielleicht nicht mehr so gut flanieren wie im alten Domizil mit seiner Überfülle an verfügbaren Kassetten, aber Geschäftsführer Peter Glanz hat sein Angebot nach Themenschwerpunkten sortiert und nach den Regisseuren, die für seine Klientel passen. Und ganz stolz hat er einen Zettel an eine Säule gehängt mit einer einfachen Rechnung: »Video-City: 60 000. Netflix: 4 000« verfügbare Filmtitel. Trotzdem sind die letzten Jahre auch für die »Video-City« nicht gut gelaufen. »Zu uns kommen die Leute«, sagt Glanz, »die was Besonderes wollen, das sie woanders nicht kriegen können.« Gut gehen besonders die großen Klassiker der Filmgeschichte. Und immer noch stockt Glanz seine Sammlung um rund 50 Titel pro Monat auf.

Auch für die legendäre Berliner Videothek »Videodrom« waren die letzten Jahre nicht sonderlich gut. Wobei in Berlin immer noch mehr als 30 Videotheken arbeiten. Im Sputnik-Kino gab es letztes Jahr eine Veranstaltung mit dem klingenden Titel »Nicht der Videothekar ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«, in Anspielung an den Rosa-von-Praunheim-Film. Mit Bibliotheken wurden die Videotheken auf dieser Veranstaltung verglichen; und es wurde vor der Gefahr gewarnt, dass Filme, die nicht physisch vorliegen, auch irgendwann einmal aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden könnten. Auch der Begriff eines Archivs bei gut sortierten Videotheken tauchte oft im Sputnik-Kino auf: Schon längst haben die Videotheken das Schmuddel­image überwunden. Als ein »Ort filmischen Wissens« hat sie der Filmwissenschaftler Tobias Haupts in seiner 2015 erschienenen Dissertation »Die Videothek« bezeichnet.

Der Regisseur und Autor Jörg Buttgereit sagte auf dieser Veranstaltung, dass das Haptische für ihn wichtig sei und er nie auf den Gedanken käme, etwas zu streamen. Und die Silberscheibe ist beileibe noch kein Auslaufmodell, wenn auch die Verkaufszahlen eher nach unten weisen und ihnen in den großen Elektronikmärkten immer weniger Platz eingeräumt wird. Die DVD hatte von den Verkaufszahlen her ihren Höchststand 2006 mit einem Umsatz von 1,63 Milliarden Euro und ist bis heute auf ein rundes Drittel zurückgegangen (664 Millionen Euro). Die Blu-ray erreichte ihren Höchststand 2015 mit 470 Millionen Euro und ist bis 2017 auf 393 Millionen gefallen. Zusammen machten beide Formate 2017 immer noch eine Milliarde Euro Umsatz. Mehr hat das Kino in Deutschland auch nicht. Und es gibt Anbieter mit einer erstaunlich mutigen Angebotspalette in Sachen Filmgeschichte. Da sind etwa die vielen Western, die Koch Films herausgebracht hat. Oder das Label Bildstörung mit seinen Extravaganzen und Ausgrabungen wie Aleksei Germans »Es ist schwer, ein Gott zu sein« oder Harry Kümels »Blut an den Lippen«. Die wenigsten davon findet man bei Streamingdiensten.

Magische Orte

Es gab eine Zeit, da hat man sich einen werdenden Regisseur eher hinter dem Tresen einer Videothek vorgestellt als in einem Kino, wo ja etwa die Protagonisten der Nouvelle Vague ihr Handwerk gelernt haben. Schuld daran war natürlich Quentin Tarantino, der viele Jahre im »Video Archives« in Manhattan Beach gearbeitet hat, zusammen mit einem weiteren späteren Regisseur, Roger Avary. Tarantino hat in Interviews oft betont, dass die Filme, die er dort gesehen hat, wenn gerade mal nichts los war, sein Wissen und seine Handschrift geprägt haben.

Tarantino ist bis heute kein Freund von Streamingdiensten. In einem Interview hat er gesagt: »In einer Videothek war das ganz anders. Du hast dich umgesehen, dir eine Filmhülle ausgesucht, dir den Klappentext durchgelesen. Du hast eine Wahl getroffen, und vielleicht hast du mit dem Typen hinter der Kasse gesprochen, und vielleicht hat er dir eine Empfehlung gegeben. Und er hat dir nicht einfach irgendwas in die Hand gedrückt, er hat dir den Film vorgestellt.« Empfehlungen hat der Typ hinter der Kasse in Kevin Smiths Erstling »Clerks« (1994) allerdings nicht gegeben, sondern eher rüde seine Kunden abgekanzelt. Aber das war Randal, und der hatte sowieso ein permanentes Tief. Empfehlungen gehören heute zum Tagesgeschäft einer Videothek. Und man bekommt sie von einem Menschen, nicht von einem Algorithmus.

Video und kollektives Gedächtnis

Wo kann man sich denn heute Filmgeschichte ansehen, wenn man sie nicht zufällig zu Hause im Regal stehen hat? Das Angebot der Fernsehsender in Sachen Filmgeschichte ist jenseits von Arte oder 3sat extrem ausgedünnt. Die Zeit, als die Programmkinos noch ältere Filme spielten, ist vorbei. Bleiben noch die kommunalen Kinos. Von denen gibt es 140 in Deutschland – es sind aber nicht alle historisch orientiert. Dass man wenig bei den beiden großen Streaminganbietern Netflix und Amazon Prime findet, wurde eingangs schon gesagt. Man könnte natürlich auf neue Anbieter hoffen, wie die Ende des Jahres startenden Streamingkanäle von Warner und Disney. Aber die zeigen natürlich nur das Portfolio der jeweiligen Firmen und ihrer Ableger. In den USA wird in diesen Tagen »The Criterion Channel« an den Start gehen, der Streamingableger der Firma Criterion, die berühmt ist für ihre qualitätvollen DVD-Herausbringungen mit brillanter Abtastung und elaboriertem Zusatzmaterial. Allerdings war der Criterion-Streaming-Kanal »FilmStruck« Ende letzten Jahres von Warner Media eingestellt worden, weil er »ohne größere Erfolgsaussichten« sei. Wenn Sie sich dann aber mal zusammenrechnen, was Sie an Abo-Gebühren zahlen, damit Sie auf einem der vielen von Ihnen abonnierten Kanäle endlich den gesuchten Film finden, ist das ein Vielfaches von den 2,50 Euro, die in einer Videothek eine durchschnittliche Ausleihe pro Tag kostet.

Nein, die Videotheken bleiben auch für die nächsten Jahre unverzichtbar. Angesichts sinkender Nachfrage suchen sie auch nach neuen Modellen, um ihr Angebot aufrechtzuerhalten. Dem »Video-Film-Shop« in der Kasseler Innenstadt, schon 1975 gegründet, drohte 2017 das Aus. Dann hat sich ein Verein gegründet und den Shop, der in eine Wohnung und eine Fahrschule hineingebaut wurde, übernommen. »Randfilm«, ein »Verein zur Förderung der abseitigen Film- und Kinokultur«, wie es programmatisch heißt, betreibt jetzt den Laden mit seinen 22 000 Filmtiteln in einer Mischung aus Videoverleihgeschäft, Museum und Veranstaltungsort, mit einem kleinen Vorführsaal. In dem kann man im Juni etwa den japanischen New-Wave-Film »A Funeral Parade of Roses« (1969) sehen, der in diesen Tagen auf Scheibe herauskam. Die »Filmgalerie Phase IV« in Dresden verfolgt ein ähnliches Konzept. Schon vor drei Jahren konnte das Überleben nur durch Crowdfunding gesichert werden, immerhin kamen 39 000 Euro zusammen. Auch in Dresden wurde ein Verein gegründet. 650 Mitglieder braucht der, sagt Sven Voigt, Gründer und Leiter der Filmgalerie, um die Videothek stabil betreiben zu können; die Zahl ist so gut wie erreicht. 120 Euro pro Jahr kostet die Mitgliedschaft – und alle Ausleihen sind kostenlos. Der Verein macht finanziell unabhängiger, sagt Voigt.

Zum Tod des Schauspielers Bruno Ganz präsentierte »Phase IV« seine berühmten Filme. Wichtig ist Voigt auch die lokale Vernetzung: Regisseursgespräche beim KurzFilmFest Dresden finden auch in der Filmgalerie statt. Die öffentliche Hand unterstützt Filmkultur und Filmgeschichte auf verschiedenste Art, durch Förderung von Filmarchiven und Filmmuseen, durch die Digitalisierung des deutschen Filmerbes. Die Bundesregierung hat gerade das »Zukunftsprogramm Kino« mit fünf Millionen Euro aufgelegt, das Kinos im ländlichen Raum mit bis zu 25 000 Euro unterstützt. Es wird Zeit, darüber nachzudenken, ob die öffentliche Hand nicht auch die Videotheken unter ihre Fittiche nehmen sollte. Die hessische Filmförderung hat den Kasseler »Film-Shop« schon gefördert, zumindest projektbezogen. Nirgendwo ist so viel Filmgeschichte so nah am Endverbraucher wie in den Videotheken. Das sind Orte der Cinephilie. Rettet sie.

Vor fünf Jahren hat Jörg Buttgereit über das Videothekensterben berichtet. Die Diskussion »Nicht der Videothekar...« findet sich auf www.bahnhofskino.com.

Meinung zum Thema

Kommentare

Liebe Redaktion,

nicht zu vegessen die Büchereien in den Großstädten. So kann man hier in Hamburg bei den öffentlichen Bücherhallen mehrere Tausend DVDs und BluRays ausleihen, teilweise aus dem Ausland (Spanien, Italien, Frankreich, England, USA) besorgt. Und das alles umsonst, wenn man seinen Jahresbeitrag bezahlt hat. Mehr unter: buecherhallen.de

Tschüß

Michael Ranze

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