Video-Essays: Die neue Schule des Sehens

»Transformers: The Premake (A Desktop ­Documentary)« (2014). © Kevin B. Lee

»Transformers: The Premake (A Desktop ­Documentary)« (2014). © Kevin B. Lee

Filme erläutern, Einstellung für Einstellung: das funktioniert im Internet inzwischen ganz prächtig. Thomas Meder über die Kunst des Video-Essays

Filmtheorie und filmische Praxis sind Verwandte, die einander nicht lieben – es geht ein Riss durch diese Beziehung. Die Rede ist von der Schwierigkeit, sinnliche Filmbilder im abstrakten Verweissystem der Sprache zu beschreiben. Angehaltene Bilder, Standbilder, waren und sind dabei im strengen Sinn wenig hilfreich, verwandeln sie das zeitbasierte Medium doch in Fotografie: Das bewegte Bild wirkt dann »tot, erstarrt und flach in einer Dimension aus Andeutung und Augenblick«. So hat es die angriffslustige Patti Smith einmal in einem Gedicht formuliert.

Es geht hier nicht um den Ratschlag für Kinogänger. Es geht um wissenschaftliche Studien, die analytisch jenen berühmten Ort der Erkenntnis ansteuern, an dem die Kunst, scheinbar mühelos, immer schon ist. Am Horizont der Filmtheorie scheint allerdings inzwischen eine methodische Alternative auf. Der amerikanische Filmwissenschaftler ­David Bordwell zum Beispiel führt heute eine lebendige Website und vertreibt im Netz ein PDF über Christopher Nolan, zwischen dessen Zeilen Clips aus Nolans Filmen montiert sind. Die eigentliche Hoffnung kommt aber von der Basis, von Fans, Nerds und ­Geeks, die sich auf Plattformen wie YouTube, ­Vimeo oder Fandor virtuell treffen und ihrer Liebe zum Film in kreativer Weise freien Lauf lassen. Die Hoffnung heißt Video-Essay; die entsprechende Szene ist unüberschaubar und dauernd aktiv. Das Ergebnis ist an zwei Merkmalen zu bewerten, die digitale Kommunikation generell kennzeichnen: scheinbar schrankenlose Distribution und, vor allem, die unmittelbar anschauliche Qualität der über­mittelten Nachricht.   

Der Film-Erklärfilm

Der beste Einstieg in die Welt des reiferen Video-Essays könnte das Werk von Tony Zhou sein, einem Cutter, der als Freelancer in San Francisco arbeitet und in seiner Freizeit Essays montiert. Etwas über 30 davon finden sich unter dem Reihennamen »Every Frame a Painting« im Netz. Dem Namen gerecht wird »And the Other Way Is Wrong«, ein Essay über die Grundsätze, die David Finchers außergewöhnlich kontrollierte Kameraarbeit leiten, von der Bevorzugung der Stativkamera über den minimalistischen Einsatz von Close-ups bis zu den dramaturgisch ausgetüftelten Kamerapositionen in scheinbar undramatischen Situationen: Man begreift da sehr gut, was Finchers Filmen ihre innere Spannung verleiht.

Dynamischer wird es in Zhous Beiträgen über Buster Keaton oder in »How to Do Visual Comedy«, in dem erläutertert wird, wie phantasievoll Regisseur Edgar Wright in Filmen wie »Shaun of the Dead«, »Hot Fuzz« oder »Scott Pilgrim« Schnitt, Kadrage, Kamerabewegung, Musik und Ton zur Erzielung komischer Effekte einsetzt. Zhou ist ein klassischer Filmerklärer, der ziemlich schnell spricht und dazu im Bild zeigt, wie etwas gemacht ist und wie Wirkungen zustande­ kommen. Dafür muss man, wie für die meisten Video-Essays, ­einigermaßen Englisch verstehen. Trotzdem wird die permanente Voiceover-­Beschallung solcher Film-Erklärfilme für den Rezipienten manchmal mühe-, gar qualvoll. Das wiederum haben die meisten Produzenten erkannt – und ergänzen ihre Voiceover mit englischen Untertiteln. Ein globaler Marktplatz ist zum Leben erwacht.

Wie viel Sprache verträgt der Film?

Ein Markt, auf dem sich viele tummeln, der die Macher aber ­selten ernährt. Lernende können von der Arbeit an einem Video-Essay ­profitieren: Sie schärft die Skills und den kinematographischen Blick. Mancher Versuch findet sich in Bewerbungsmappen für Hochschulen wieder: wilde, ambitionierte Kompilationen und Montagen, die in den USA offenbar ohne Bedenken ins Netz hochgeladen werden (können). Am anderen Ende des Spektrums finden sich akademische Arbeiten. Sie sollen geschriebene Theorie ersetzen oder mit ihren eigenen Mitteln reflektieren, was dem Verständnis von Film als audiovisueller Gestaltungspraxis gewissermaßen zuwiderläuft.

Wie eine kritische Anmerkung dazu wirkt Ian Garwoods Essay zur »göttlichen« Erzählinstanz im Kino, dem Voiceover, die er mit besserwisserischem akademischem Sprechen vergleicht. Garwood lehrt in Glasgow, seine Kollegin Catherine Grant an der University of Sussex. Auch Grant fertigt praktische Arbeiten an, so den unmittelbaren Gegenbeweis zu Garwoods defätistischer These: Der kurze Clip »A Girl Like I«, in dem Marilyn Monroe mit Jane Russell um den Preis der heißesten Revue-Diva konkurriert, spricht nur für sich, und damit für die Stärken des Kinos. Jeder Geschmacksrichter kann selbst urteilen anhand von »Diamonds Are a Girl's Best Friend«, hier im Splitscreen, fast synchron und doch ganz persönlich vorgetragen. Augenfällig weitere Mash-ups, ein Bild-an-Bild-Vergleich der beiden Varianten von »The Girl with the Dragon Tattoo« (von Kevin B. Lee) oder die auffällig synchrone Dramaturgie von »Black Swan« und »Whiplash« (»Lessons from the Screenplay«).

Die Wirkung geht vom Bild aus

Und dann ist da noch der Supercut, die vermeintliche Königsdisziplin des Video-Essays, der ganz ohne Sprache auskommt, weder geschrieben noch gesprochen. In diesem Format toben sich Fans mit Variationen über ihre filmischen Lieblingsaktionen besonders gern aus. Ernst zu nehmen ist der Supercut von aus der jeweiligen Erzählung herausgerissenen Standardsituationen durchaus. Solche Montagen ziehen Filmmuseumsbesucher heute jedenfalls stärker in den Bann als stille, unbewegte Objekte in Vitrinen mitsamt didaktischem Ansatz. Man mag sich an Walter Benjamins Worte über das »Zitieren ohne Anführungszeichen« erinnert fühlen: »Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.«

Das menschliche Gehirn ist süchtig nach Bildern in Bewegung, und die »stärkste Wirkung des Films«, daran hielt der Theoretiker Rudolf Arnheim fest, ginge »immer noch vom Bilde« aus. Eine vermeintliche Binsenweisheit, die der Video-Essay als erstes filmisches Metamedium nun tatsächlich vor Augen führt. Und siehe da, mit einem Mal wird anschaulich, was Arnheim in seinem klassischen Filmbuch als »ästhetisches Material« des Films bezeichnet hat: »Schon im Allerprimitivsten haben wir die bedeutsamsten Abweichungen [gefunden … ] zwischen dem Bild, das die Kamera von der Wirklichkeit und dem, das das menschliche Auge von der Wirklichkeit liefert.« Nach seinem erfolgreichen Filmbuch wurde es dem Gestalttheoretiker und Psychologen zum Anliegen, die ästhetische Primärerfahrung in jeglicher Form von Medialisierung zu erforschen. Damit hat er wenig Nachfolge gefunden, vor allem nicht in der Filmwissenschaft. Der Video-Essay nimmt diese Spur auf.  

Das Runde und das Eckige

Auch Regisseure und Kameraleute suchen nach bedeutsamen Formen. Video-Essays führen das wiederum vor Augen: So ein simpel argumentierender Versuch von Jack Nugent aus der maßgeblichen Serie »Now You See It«, der darlegt, wie unser Gehirn auf die Verwendung geometrischer Grundformen im Bildaufbau – ­etwa: ­spitze für böse Feen, runde für Balu im »Dschungelbuch« – ­wertend reagiert. Oder »Frames and Containers« von Charlie ­Lyne: Ausgehend von Eisensteins ­»dynamischem Quadrat«, der Idee, dass das Format eines Films eigentlich variabel und in jedem Augenblick auf den Bildinhalt abgestimmt sein müsste – der Film würde sich dann gewissermaßen aufblähen und zusammenziehen –, wird hier die Differenz von Kinoleinwand (container) und tatsächlich ausgefülltem Raum (frame) aufgezeigt. Und man sieht, wie die Filmemacher damit experimentierten, bis hin zu Wes Anderson, der in »Grand Budapest Hotel« drei verschiedene Formate für verschiedene Zeit­ebenen benutzte, oder Xavier Dolan, der den jugendlichen Helden in »Mommy« in einem Moment der Bewusstwerdung das unkonventionelle 1:1-Bildformat aufreißen lässt.

Lyne führt das neu erwachte Interesse am Spiel mit dem Frame auf die zahllosen Screens zurück, mit denen wir täglich konfrontiert sind, vom Handy bis zum Großfernseher. Eine einfache These: Analog zur Vielfalt elektronischer Rechtecke wachsen auch die Möglichkeiten, Inhalte zu gestalten. In der Tat werden die rudimentärsten Filme heute hochkant aufgenommen; so etwas bleibt nicht ohne Wirkung, wie der Essay »Vertical Framing« von Miriam Ross ausführlich erläutert. Tatsächlich sind die Möglichkeiten der Weiterverarbeitung filmischer Informationen durch Programme wie Adobe Premiere ebenso einfach wie vielfältig geworden; es bedarf durchaus »ökologischer Gestaltung«, um eine visuelle Argumentation nachvollziehbar werden zu lassen. Grafiken, Masken, Umzeichnungen und Animationen stehen zur Hilfe bereit, ebenso gestaltete Schrift im Bild und als Bild.

Allein die »göttliche Sprecherstimme« hält die Bastion herkömmlichen Dozierens. So manche Stimme scheint eine originelle Visualisierung gar verhindern zu wollen. Darüber hinaus heißt es bei Ian Garwood, Akademiker seien nicht zwangsläufig gute Entertainer, wenn es um Voiceover geht. Am Ende schwächt jede volle Tonspur ihre eigenen Argumente zugunsten einer überredenden Rhetorik, der die Anschauung sinnlicher Bilder fremd und verdächtig bleibt.
 
Entwicklungsland Deutschland

Ohne Filmausschnitte kein Video-Essay: Dabei ist zu bedenken, dass die Rechtefrage in den USA anders gehandhabt wird als ­etwa in Deutschland. Das jeweilige Urheberrecht ist im Prinzip nicht sehr verschieden, doch wird es unterschiedlich angewendet. Erhebt sich hierzulande Protest gegen die Verwendung von Originalaus­schnitten, hat der Kläger die Richter in der Regel auf seiner Seite. Nach einigen Musterprozessen haben die großen Hollywoodstudios erkannt, dass für ihre Klassiker derart kostenlose Werbung entsteht; einige Essays wurden sogar angekauft. Firmen wie der Website-­Designer Squarespace traten wiederholt als Sponsoren auf. Auch in Deutschland zeigt sich ein zarter Trend in Richtung Laufenlassen, zumal ein Streitwert vor Gericht nach einem erwartbaren Profit bemessen wird. Dennoch bleibt eine juristische Grauzone. Wer hier Abhilfe schaffen könnte, wären die Hochschulen. An der deutschen Universität, so lehrt die Erfahrung, ist ein Video-Essay als Prüfungsleistung jedoch nur mit größten Einschränkungen erlaubt, und wenn, dann scheuen Rektoren und Dekanate die Veröffentlichung, sobald fremdes Autorenrecht betroffen ist. Wissenschaftliches Zitieren von Filmen ist in geringem Umfang möglich, muss aber als solches deutlich sein und darf in der Regel nicht länger dauern als »zum Beleg einer Aussage notwendig«.

Immerhin gibt es ein reges Bemühen jüngerer Dozenten wie ­Michael Baute oder Volker Pantenburg, versammelt im Umkreis der Website »Kunst der Vermittlung«. Auf dieser älteren Seite finden sich die Ahnen des Video-Essays versammelt, filmische Arbeiten, die in die 50er Jahre zurückreichen und in aller Regel aus Frankreich stammen. Hier trifft man auf illustre cinephile Namen. Schnell stellt sich allerdings der Eindruck ein, dass sich seither etwas Grundsätzliches geändert hat. Der klassische Essayfilm – der auch in Deutschland eine starke Tradition hat, man denke an die Schule der dffb – setzt in der Tradition des literarischen Essays auf eine starke Autorenpräsenz. Beim klassischen Essayfilm ging es sozusagen um den Architekten und die sichtbare Architektur, beim Video-Essay steht der Bauplan im Fokus. Was erzählt wird, ist für den Video-Essay kaum noch von Belang, eher das Wie, vor allem aber wie dieses Wie zu konkreter Wirkung gelangt.

In Deutschland ist kein herausragender Video-Essayist in Sicht, eine Rolle, die dem Teilhabe heischenden Charakter der Gattung auch widerspräche. Dennoch ist ein Erfolg zu vermelden: Nach einem Gastaufenthalt am Harun-Farocki-Institut in Berlin ist der Primus des amerikanischen Video-Essays, Kevin B. Lee, nun an der Merz Akademie in Stuttgart angekommen, wo er einen Lehrstuhl für Crossmedia Publishing besetzt. Lee hat in den letzten zehn Jahren beinahe wöchentlich einen Essay produziert. Oft waren das Einlassungen von kaum 60 Sekunden – kurzweilig, kenntnisreich, passioniert. Lees erfolgreichster Titel, »Transformers: The Premake (A Desktop ­Documentary)«, dokumentiert die Fortführung des Sci-Fi-Spektakels in zahlreichen aus dem Netz gefischten Handy-Aufnahmen, nebenbei auch die Hilfe der US Army beim Dreh. Berühmt wurde der Essay für seine Inszenierung des Handwerks eines Desktop-Editors: Der User sieht sich im Spiegel einer Benutzeroberfläche selbst bei der Arbeit zu. Im öffentlichen Archiv von Lee kann man viel lernen, garniert mit etwas Gossip. Hilfreich zur Sichtung des State of the Art sind von Lee zusammengetragene Kommentierungen der besten Video-Essays der letzten Jahre.

Vom Sehen zum Denken

Wenn man das Erkenntnispotenzial der kleinen Gattung Video-Essay an einem Stichwort festmachen sollte, wäre das vielleicht der Begriff der Komposition. Filme sind gestaltete Werkstücke in der Zeit, ähnlich wie Musik sicht- und hörbar – und wenn sich ­Körperhaare aufstellen, sogar neuronal erfahrbar. Den Gedanken des zeitlich sich realisierenden Artefaktes, der auf ein Notenblatt oder einen Bauplan von Emotionen zurückgeführt werden kann, greift in intellektueller Hochverdichtung der Essay »Volumetric ­Cinema« von Kevin L. Ferguson auf. Der New Yorker College-Dozent dreht die Arnheim'sche These von Film als Projektion erkennbarer dreidimensionaler Gegenstände auf eine zweidimensionale Sehfläche um: Erst mit dem Glauben, etwas zu sehen, werde Denken überhaupt aktiviert. Unser Gehirn setzt Filme zusammen. Je aktiver die Beteiligung an dieser Konstruktion, desto besser funktioniert das Ganze. Ferguson postuliert als Konsequenz ein »Bewegungsmodell« des Films. Mit Hilfe spezieller Software entstehen futuristisch-optische Skulpturen, die neues Sehen befördern, auf denen unser Blick aber noch ein letztes Mal zur Ruhe kommt.

Leichter hat es die neue Theorie, wenn sie sich auf einen sehr einprägsam konstruierten Film bezieht. Zuletzt hat Edgar Wrights »Baby Driver« viele Video-Essayisten inspiriert. Thomas Flight zeigt in seiner Analyse der Eingangssequenz von »Baby Driver«, wie das Prinzip des hörbaren Films Makro- wie Mikroebene regiert und welche visuellen Informationen hier als »sichtbare Musik« nach vorne gebracht werden. Ein solcher Video-Essay gibt einen Teil des sinnlichen Erlebens im Kino wieder. Oft ist er nur kurzweiliges Edutainment. Im besten Fall durchquert man mit seiner Hilfe aber einen Kontinent, den man so noch nicht gesehen hat.         

[Mit freundlichen Hinweisen von Niklas Kattwinkel und Ivo Ritzer]

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