Regisseur Miguel Gomes: Die Welt hat keine Grenzen

Miguel Gomes am Set von »Aquele Querido Mês de Agosto« (2008). © O Som e a Fúria (2007)

Miguel Gomes am Set von »Aquele Querido Mês de Agosto« (2008). © O Som e a Fúria (2007)

Er hat nur eine Handvoll Langfilme gedreht. Aber er ist einer der großen europäischen Auteurs: der Portugiese Miguel Gomes. Ein Glück, dass seine atemberaubende Trilogie »1001 Nacht« auch bei uns läuft

Dem Regisseur bleibt keine Wahl. Es würde gegen den ge­sunden Menschenverstand verstoßen, zwei Filme zur gleichen Zeit zu drehen. Wie ließe es sich, schon rein logistisch, vereinbaren, die Schließung einer einst stolzen Schiffswerft zu schildern und sich parallel einem Phänomen zu widmen, das rätselhaft zeitgleich auftritt, einer Invasion von Wespen?

Es fällt Miguel Gomes schwer, sich zu entscheiden. Also verwirft er beide Vorhaben. Der Prolog seiner Filmtrilogie »1001 Nacht« ist eine einzige fortgesetzte Suchbewegung: Wie soll er auf die Krise reagieren, die seine Heimat Portugal seit Jahren fest im Klammergriff hält? Während er noch vor und hinter der Kamera über seinem Dilemma brütet, ist die Entscheidung in Wahrheit längst gefallen: Der Regisseur hat, einfach so nebenher, beide Filme realisiert. Sie sind ihm sozusagen während seines Zauderns unterlaufen. Die Kamera hat zuverlässig festgehalten, wie die Schiffswerft abgewickelt wird, und sich dann, mit gleicher dokumentarischer Neugierde, der mysteriösen Wespeninvasion zugewandt. Miguel Gomes ist ein Filmemacher, dem man trauen darf, auch wenn man seine Worte nicht immer für bare Münze nehmen sollte.

In den ersten 25 Minuten der Trilogie legt er Rechenschaft darüber ab, welchen Nutzen seine Arbeit in Zeiten sozialer Not haben könnte. Er offenbart der Kamera seine Ratlosigkeit und klagt unerbittlich die eigene Verantwortung ein. Einmal nimmt er gar Reißaus vor der Kamera, aber der Realität kann ein engagierter Filmemacher nun einmal nicht entfliehen. Er ist aus freien Stücken eingebettet in das Drama der Austerität, das Portugal aufführen muss. Aber welch triumphaler Durchbruch ist es dann, welch frühe Katharsis, wenn er nach 25 Minuten die Lösung für seinen Film findet: Warum dieses reale Drama nicht von Scheherazade als arabisches Märchen erzählen lassen? Endlich kann der Vorspann von »1001 Nacht« beginnen.

Der Regisseur tritt ohnehin in seinen Filmen gern selbst in Erscheinung. Dabei setzt er eine Maske auf, die durchschaubar und wahrhaftig ist. Auf Anhieb wirkt er sympathisch und arglos. Seine großen Augen mögen skeptisch blicken, aber seine Wangen muten unschuldig verträumt und sein Mund schüchtern an. Formen sich die Lippen zu einem verschmitzten Lächeln? Nein, das hat er sich dann doch versagt. In »Aquele Querido més de Agosto« (Our Beloved Month of August) tritt er eingangs als ein Zeremonienmeister auf, der eine Kette von Dominosteinen und damit den Film selbst anstößt. Zwischendurch sieht man ihn im Gespräch mit einem Drehbuchautor. Viel Erhellendes kommt nicht dabei heraus; der Regisseur ist recht einsilbig. Schwer zu sagen, ob seine Leinwandpräsenz nun augenzwinkernde Rechtschaffenheit signalisieren soll oder ob er nur raffinierte Köder auslegt für Kritiker. Aber diesmal, in »1001 Nacht«, ist der selbstreflexive Augenschein ein ernstes Spiel. Das Dilemma, in dem Gomes eingangs steckt, ist einerseits und doch ein Scheingefecht: Dieser Regisseur dreht immer mindestens zwei Filme in einem.

»Tabu« von 2012 hat Gomes gewissermaßen als ein Double Feature mit Prolog strukturiert. Auch »1001 Nacht« ist ein filmischer Wechselbalg. Die Betrachtung des sozialen Klimas, das er im Zeitraum eines Jahres, vom August 2013 bis zum Juli 2014, in Portugal aufspürt, gießt er in die Form des Dokumentarischen und des Sagenhaften. Beidem ist nicht zu trauen. In die vermeintlich dokumentarischen Szenen bricht die Fiktion allein schon dadurch ein, dass einige Akteure in mehreren Rollen auftreten (es wäre ein Fehler, sämtliche Darsteller für Laien zu halten). Und das Märchen kann sich der Realität nicht verschließen. Das Drehbuch beruht auf Geschehnissen, die wachsame Journalisten in diesem Zeitraum für ihn festgehalten haben. Ein Vorspanntitel zu Beginn jedes Teils gemahnt unerbittlich daran, dass das portugiesische Volk von einer Sparpolitik beherrscht wird, »die offensichtlich keine soziale Gerechtigkeit kennt«. Davon zu berichten, könnte man als Pflicht begreifen. Aber Gomes entscheidet sich für die Kür.

Sein Stilprinzip ist die Formwandlung. An die erzählerischen Regeln, die er eingangs aufzustellen scheint, fühlt er sich selten gebunden. Der Kurzfilm »Cántico das criaturas« von 2006 beginnt als ein hastiger Videoclip. Entschlossen nimmt er Zugriff auf eine äußere Wirklichkeit, die sich aber als so prall und assoziationsreich erweist, dass der Film mühelos in die Künstlichkeit eines mittelalterlichen Dekors hinübergleiten kann. Darin wird von der Initiation des Heiligen Franziskus von Assisi erzählt (kurzzeitig auch in der Manier eines Scherenschnittfilms von Lotte Reiniger), woran sich sodann dokumentarische Aufnahmen aus der Tierwelt anschließen. »Our Beloved Month of August« gibt sich weitgehend als Dokumentarfilm über portugiesische Sommerfestivals zu erkennen, bricht diese Erzählebene aber durch Spielszenen auf.

Gomes schlägt kühne Bögen und bedient sich vielfältigster Ikonographien nach eigenem Gutdünken. Dazu findet er auch auf der Tonspur ein Äquivalent. Der Erzählkommentar des zweiten Teils von »Tabu« nimmt den Tonfall eines altmodischen Abenteuerromans an. Die soziale Misere der portugiesischen Gegenwart kommentiert die Offstimme der ersten beiden Teile von »1001 Nacht« in der Diktion eines arabischen Märchens; im dritten Teil treten an ihre Stelle Texttafeln. Gomes ermuntert den Zuschauer, dies nicht als Gegensatz zu sehen. Die Wirklichkeit steht zu seiner Disposition, aber die Wahrheit will er in den Mythen suchen. Er tut recht daran, denn für ihn ist bereits die Realität magisch. 

Derlei Exzentrik kann womöglich nur aus geordneten, kontinuierlichen Arbeitsverhältnissen entstehen. Lange Zeit war Rui Poças sein bewährter Kameramann (bei »1001 Nacht« hat er ihn jedoch durch Sayombhu Mukdeeprom ersetzt, den Kameramann von Apichatpong Weerasethakul: so viel An­thropologie verlangt wohl nach dem Blick eines Außenstehenden). Mariana Ricardo ist meist seine Koautorin, und Telmo Churro arbeitet häufig am Schnitt und den Drehbüchern mit. Seit seinen ersten Kurzfilmen arbeitet er mit der Produktionsfirma »O Som e a fúria« zusammen, deren Gründer Luis Urbano und Sandro Aguilar wichtige Impulsgeber des jungen portugiesischen Kinos sind; Aguilar führt mittlerweile auch selbst Regie. Am diesjährigen Wettbewerb der Berlinale nahm die Produktionsfirma mit »Cartas de Guerra« teil, der Verfilmung von António Lobo Antunes' Erinnerungen an seine Zeit als Militärarzt in Angola. Ivo Ferreiras Film weist stilistisch frappierende Ähnlichkeit mit Gomes' »Tabu« auf: Er ist ebenfalls in der Kolonialzeit angesiedelt, in atmosphärischem Schwarz-Weiß gedreht, an das sich auf der Tonspur eine eingehende Voice-over-Erzählung anschmiegt. Macht das Kino von Gomes also bereits Schule in seiner Heimat?

»Cartas de Guerra« (2016)

Von außen betrachtet wirkt diese Kinematographie wie ein Biotop, in dem erstaunlicher Wildwuchs möglich ist. Das Nebeneinander von Ernst und Verspieltheit hat Tradition und Portugal einen prominenten Platz auf der Weltkarte des Kinos eingebracht. Der elegante, anspielungsreiche Minimalismus von Manoel de Oliveira, die anarchische Verstiegenheit eines João César Monteiro künden von einer intellektuellen Freizügigkeit, die sich – nicht in einem strengen Generationenvertrag, sondern als vergnügter Wettbewerb der Fantasie – fortsetzt. Für Kenner wie den spanischen Kritiker Álvaro Arroba entsteht in Portugal das beste Kino Europas. Es scheint keinerlei kommerziellen Diktaten unterworfen zu sein. Der frankoamerikanische Regisseur Eugène Green, der hier 2009 »A Religiosa Portuguesa« drehte, schwärmte gar, diese Nation produziere nur Kunstfilme. Eine schöne Hypothese, die zumindest von der internationalen Ausstrahlung bestätigt wird. So fand beispielsweise Pedro Costas Trilogie über das Lissabonner Einwandererviertel Fontainhas (»Haut und Knochen«, »In Vandas Zimmer« und »Jugend voran!«) in den letzten Jahren große Beachtung, und João Pedro Rodrigues (»O Fantasma«, »To Die Like a Man«) gilt als ein Protagonist des Queer Cinema. Nicht von ungefähr trägt das bedeutendste Festival des Landes die Unabhängigkeit bereits in seinem Namen: »IndieLisboa«.

Wir dürfen uns der Wahrscheinlichkeit anvertrauen, dass Miguel Gomes Geschichten ebenso gern zuhört, wie er sie selbst erzählt. Eine der Anregungen, aus denen »Tabu« hervorging, stammt von einem Musiker, der Gomes voller Nostalgie von der Kolonialzeit in Mosambik berichtete, als seine Band im weißen Anzug mit portugiesischen Coverversionen von Popsongs auftrat. Der Regisseur geht ohnehin wie ein Sammler vor, der Bilder, Töne und Erinnerungen unterschiedlicher Herkunft zusammenträgt und dann schaut, ob ein Film daraus werden kann.

»Our Beloved Month of August« mutet wie das Ergebnis einer Feldforschung an, die Impressionen von portugiesischen Musikfestivals mit lebensgeschichtlichen Anekdoten anreichert. Gomes sucht nach der Magie des Bezeichnenden, Aufschlussreichen. Seine Filme begreifen sich, nicht ohne Widerhaken, als Medien der Überlieferung. »1001 Nacht« schließt, wiederum nicht ohne Widerhaken, an dieses Projekt der Volkserzählung an. Seine Länge und sein Format (bisher drehte er gern im frühen Tonfilmformat mit einem Bildverhältnis von 1:1,37 oder allenfalls im klassischen Breitwandformat, nun aber in majestätischem Cinemascope) verleihen ihm die Anmutung eines Freskos.

Scheherazade erzählte, um den Tod hinauszuzögern. Gomes tut es um des mentalen, sozialen Überlebens willen. Das hätte er sich leichter machen können. Die Erzählung wuchert, die Geschichten müssen unterteilt werden in Unterkapitel, ständig gebieren sie weitere Geschichten. Ob es ihm dabei so erging wie der Protagonistin der Erzählung »Die Tränen der Richterin«, die empört an der Verkettung von Schuld und Dummheit verzweifelt, die bei einem Prozess zutage tritt? Die Konsequenzen wollen einfach kein Ende nehmen.

»1001 Nacht« (2015). © Real Fiction

Das große Rätsel, das »1001 Nacht« aufwirft, liegt im Umschlagpunkt, von dem an sich die Fantasie der verbürgten Realität bemächtigt. Ein Film, in dem ein renitenter Hahn als Zeuge gehört wird, sogar beim Wahlkampf Stimmen erhält, und in dem es derart viele Geistererscheinungen gibt (auch insofern war es eine gute Idee, Apichatpong Weerasethakuls Kameramann zu verpflichten), kann die Realität schließlich nur als Sprungbrett nehmen.

Sprechende Tiere tauchten schon früher bei Gomes auf. »Cántico das criaturas« führt ein freundliches Bestiarium vor, bei dem allerlei Getier, darunter Mäuse und Meeresschildkröten, zu Wort kommen darf. Aber auch wenn die Fauna schweigt, ist sie ausdrucksstark. Man denke an den Fuchs, der in der ersten Einstellung von »Our Beloved Month of August« hoffnungsvoll einen Hühnerstall belauert, oder an das Krokodil, das in »Tabu« von einer tiefen Melancholie befallen wird, nachdem es einen unglücklichen Afrikaforscher verschlungen hat. Im zweiten Teil von »1001 Nacht« kreist ein ganzer Komplex von Geschichten um einen treuen, aber geheimnisvoll unternehmungslustigen Hund (Foxterrier?) namens Dixie. Der dritte Teil wiederum wird dominiert von der Schilderung des Alltags einiger Vogelfänger, die ihre Buchfinken für einen Gesangswettbewerb trainieren, bei dem das Tier gewinnt, welches dem Dreiklang »Pfeifen, Trillern, Schlussakkord« die meisten Variationen entlockt.

Die Vogelfänger spielen ihren Schützlingen nicht nur den Gesang ihrer Artgenossen vor. Auch Popmusik, vor allem ältere, erweist sich hier als eine zuverlässige Inspirationsquelle. In Gomes' Filmen ist sie allgegenwärtig. Ja, sie ist ein konstituierendes Element seines filmischen Kosmos. Sein Musikgeschmack ist heterogen – das Spektrum reicht von Samba bis Heavy Metal –, aber vor allem ungeniert nostalgisch. Das Repertoire der weiß gekleideten Musiker aus »Tabu« dürfte Phil Spector erkleckliche Tantiemen eingebracht haben. In »1001 Nacht« ist ein halbes Dutzend Versionen von Perfidia zu hören, Alberto Domínguez' wehmütiger Ode an den Verrat der Liebe. Darf man sie auch als Metapher für die portugiesische Politik lesen? Bestimmt, denn Miguel Gomes ist ein Zeitgenosse mit einem Faible für erhellende Anachronismen.

»1001 Nacht« Vol. 1 startet am 28.7.; die beiden weiteren Filme im August

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