Raul Krauthausen über Menschen mit Behinderung im deutschen Film

Raul Krauthausen © Anna Spindelndreier

Raul Krauthausen © Anna Spindelndreier

Warum sieht man in deutschen Filmen und Serien kaum Menschen mit Behinderung? Falls doch: Warum werden sie von Nichtbehinderten gespielt? Und was ist das überhaupt, eine Behinderung?

Könnte man sagen, dass Ihr neues Buch »Wer Inklusion will findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden« zugleich ein Resümee Ihrer Arbeit in den letzten 20 Jahren und ein Wegweiser in die Zukunft ist? 

Raul Krauthausen: Genau so kann man es zusammenfassen. Das war auch ein schmerzhafter Prozess, weil ich erkannt habe, wo ich selbst in der Vergangenheit falschlag. Ich bin ja seit mindestens 15 Jahren im Bereich Inklusion unterwegs, und da merkt man oft, dass man Umwege oder falsche Wege genommen hat. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Sie kennen sicherlich die Floskel »Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken« oder »Wir müssen aufklären«, der Bevölkerung sagen, dass es Menschen mit und ohne Behinderung gibt und dass sie die gleichen Rechte haben. Auch ich habe lange geglaubt, man muss die Leute nur lange genug mit dem Thema konfrontieren, dann wird das schon. Inzwischen habe ich ernüchtert festgestellt, dass Aufklärung eigentlich eine Stellvertreterdebatte ist. Denn es geht gar nicht darum, jemanden davon zu überzeugen, dass behinderte Menschen auch ein Recht auf Mobilität oder Bildung haben. Das sind Binsenweisheiten, die uns davon entbinden, die entscheidende Frage zu stellen: Was verhindert Inklusion? Den Busfahrer, die Nachbarin, die Lehrerin zu überzeugen, macht keinen Sinn, weil die gar nicht das Mandat haben, das zu verändern.

Es geht also darum, zielgerichteter an die neuralgischen Punkte zu gehen?

Ja, es geht darum, die Rechtsdurchsetzung zu erkämpfen. Die Rechte sind ja da, aber sie werden nicht umgesetzt, nicht eingeklagt. Als Privatperson kann ich mich relativ schwer in der Regelschule einklagen, weil auf dem Weg dahin so viele Ressourcen verbraucht werden: Geld, um einen Anwalt zu bezahlen, Zeit, die man oft nicht hat als Elternteil. Da gibt es absurde Fälle in Deutschland, beispielsweise, wenn Kindern mit Behinderung an Förderschulen selbstverständlich der Fahrdienst gezahlt wird. Aber wenn deine Eltern dafür gekämpft haben, dass du in eine Regelschule darfst, dann weigert sich die Schulbehörde, den Fahrdienst zu bezahlen.

Mit der Durchsetzung von Recht hapert es ja auch in vielen anderen Bereichen …

Ja, und ich glaube, dadurch entsteht auch ein Großteil der Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft – weil das, was gesagt wird, nicht das ist, wonach gehandelt wird. 

Woran liegt es, dass über Inklusion immerhin mehr diskutiert wird?

Ich denke, das hat etwas mit dem Internet zu tun. Frauen, Menschen mit Behinderungen, People of Color, all die Menschen, die bisher in den klassischen Medien marginalisiert oder ignoriert wurden, haben jetzt Gelegenheit, mit Hashtags und Kampagnen an den männlich geprägten Chefredaktionen vorbei eigene Öffentlichkeiten zu erzeugen. Frauen, People of Color, Menschen mit Behinderung können sich online organisieren, Texte schreiben, Videos und Podcasts produzieren, ihre Bücher bewerben, Erfahrungen teilen und öffentlich machen, was in den klassischen Medien als unwichtig eingeordnet wird. Heutzutage kommt es häufig vor, dass Dinge, die im Internet passieren, dann bei »Anne Will« oder bei »Hart aber fair« thematisiert werden.

Seit ihrer Diplomarbeit »Zwischen Sorgenkind und Superkrüppel« haben Sie sich immer mit der Darstellung von Behinderungen in den Medien beschäftigt. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die größten Probleme?

Das ist eine schöne Frage. Wenn wir den Fernseher einschalten oder die Zeitung aufschlagen, dann sehen wir Menschen mit Behinderung entweder als den oder die paralympische*n Superheld*in, der/die trotz Behinderung, ohne Arme und Beine den Mount Everest erklommen hat. Oder als das Sorgenkind, das Schmerzen hat, an der Behinderung leidet, vom Staat oder von anderen Menschen diskriminiert wird. Nur sehr selten sehen wir Menschen dazwischen, also Kolleg*innen, Politikwissenschaftler*innen, Virolog*innen, Fußballtrainer*innen, die zufällig eine Behinderung haben. Menschen mit Behinderung, die Expert*innen in irgendeinem Bereich sind.

Werden sie unterschlagen oder haben sie wegen fehlender Barrierefreiheit gar keinen Zugang zum Studium?

Beides. Wenn Sie einen Film drehen wollen, dann ist es in Deutschland scheinbar noch immer völlig in Ordnung, dass eine Hauptfigur mit Behinderung von einem Schauspieler ohne Behinderung gespielt wird, dass also Tom Schilling im Rollstuhl sitzt. Ehrlich gesagt ist das nichts anderes als Blackfacing, nur eben zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Das nennt man cripping up oder cripping down, sich hoch- oder runterkrüppeln. Im Bereich Schauspiel ist klar, wenn man einen Preis gewinnen will, spielt man einen Behinderten. Das ist nicht in Ordnung, weil damit einem möglichen Schauspieler mit Behinderung der Arbeitsplatz genommen wird. Und es versperrt Schauspieler*innen mit Behinderung die Möglichkeit, sich überhaupt präsentieren, sich entwickeln zu können. Im Kunst- und Kulturbusiness heißt es dann immer, man muss ja kein Raucher sein, um einen Raucher zu spielen. Aber es würde ja auch kein Mann eine Frau spielen …

Zu Shakespeares Zeiten durften Frauen gar nicht auf die Bühne, die Männer übernahmen die Frauenrollen.

Ja, damals! Heute würde man das höchstens noch als Provokation machen, aber nicht als Selbstverständlichkeit. Beispiele, mit denen Sie mich widerlegen können, lassen sich immer finden. Aber seien Sie ehrlich, wahrscheinlich kennen Sie außer Samuel Koch, der in »Wetten, dass?« verunglückt ist, keinen Schauspieler mit Behinderung?

Das kommt darauf an, wie Behinderung definiert ist, da gibt es ja ganz verschiedene Grade der Sichtbarkeit. Erschien es 2014 scheinbar noch völlig in Ordnung, dass die Gehörlosen in Verstehen Sie die Béliers? von hörenden Schauspieler*innen verkörpert wurden, war im amerikanischen Remake Coda völlig klar, dass sie in der Gehörlosencommunity gecastet wurden.

Da muss ich etwas widersprechen. Das sind keine deutschen Produktionen. Das ist nämlich der Punkt. Wir kennen sie alle aus anderen Ländern, aber wie sieht die Lage in Deutschland aus? An den Schauspielschulen? Meine Recherche hat ergeben, dass zwar behauptet wird, barrierefrei zu sein, aber angeblich ist die Suche nach Talenten mit Behinderung oft erfolglos. Nach den Ursachen wird scheinbar nicht gesucht. D. h. praktische Erfahrungen mit diesen Talenten gibt es kaum. Das klassische Henne-und-Ei-Problem. Ich habe neulich eine Filmproduktion beraten, wo ein Schauspieler mit Behinderung mitspielen sollte, aber dann sagte die Versicherung, dass sie das nicht versichern kann. Das sind die Ausschlusskriterien, darum sehen wir in Deutschland keine behinderten Schauspieler*innen, außer eben Samuel Koch.

Das heißt, Samuel Koch muss als Feigenblatt herhalten?

Sehr häufig ist er das, wobei ich gar nichts gegen ihn sagen will. Aber es kann ja nicht sein, dass er der Einzige ist, den die Deutschen kennen. Es gibt Neele Buchholz, Carina Kühne, Christine Urspruch, Kassandra Wedel, Jana Zöll, Coco de Bruycker, Erwin Aljukic, Sebastian Urbanski, Jan Kampmann, Jan Dziobek, Saioa Alvarez Ruiz, Luisa Wöllisch und viele andere Schauspieler*innen mit Behinderung.

Ist es tatsächlich in Deutschland so viel schlimmer als in anderen europäischen Ländern? Läuft es anderswo besser?
Ich würde eher Richtung Amerika gehen, vielleicht nach Großbritannien, wo sie ja oft auch in ihren Strukturen sehr amerikanisch geprägt sind. Aber der Film Coda, den Sie erwähnt haben, der übrigens keine andere Geschichte ist als »Jenseits der Stille«, nur eben in Amerikanisch, wird in der Gehörlosencommunity kritisch gesehen. Warum wird eigentlich immer davon ausgegangen, dass nicht hörende Eltern ein Problem damit haben, dass das hörende Kind Musik macht? Das ist eine klischeehafte Annahme von hörenden Filmemacher*innen oder Drehbuchautor*innen!

Aber das wurde im Film sehr nuancenreich und berührend thematisiert. Es geht doch auch um eine Verbindung zwischen Eltern und Kind, darum, dass die Eltern etwas nicht wahrnehmen können, was ihrem Kind wichtig ist. Und es geht um pubertäre Abnabelung, die durch die Abhängigkeit der Eltern eingeschränkt wird.

In meinen Augen – das ist natürlich auch alles Geschmackssache – hätte es eine spannende Geschichte werden können, wenn man mehr über die Barrieren erfahren hätte und über die Diskriminierung, die Gehörlose in dieser Gesellschaft erleben. Ich fand ärgerlich, dass es dann doch wieder ein Inspirationsfilm werden musste. Aber kennen Sie auf Netflix den Film »Run«? Der ist großartig erzählt. Achtung, Spoiler. Die Schauspielerin Kiera Allen sitzt tatsächlich im Rollstuhl. Im Film wird die Tochter von ihrer Mutter sehr paternalistisch behandelt. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass sie die Tochter mit Medikamenten krank hält; die findet das irgendwann heraus und wehrt sich. Das ist sehr authentisch dargestellt. Sie ist zwar im Haus gefangen, aber wenn man sie dann draußen in der Stadt sieht, bewegt sie sich mit ihrem Rollstuhl unfassbar souverän, ohne anzustoßen, was ja auch so ein Klischee ist. Das ist ein Film, in dem Behinderung nicht benutzt wird, um nicht behinderte Schauspieler*innen glänzen zu lassen. Stattdessen treibt die Person mit Behinderung die Geschichte voran, ohne sie würde die Geschichte nicht funktionieren. Das ist für mich der kleine Unterschied.

Ist es denn in Ihren Augen manchmal gerechtfertigt, dass ein nicht behinderter Schauspieler eine Person mit Bhinderung spielt? Verständlicherweise werden Sie als Betroffener der Glasknochenkrankheit den Film »Unbreakable«, in dem der stattliche Samuel L Jackson angeblich dieselbe Krankheit hat, kritisch sehen. Aber hat das nicht den positiven Effekt, dass diese seltene Krankheit bekannt wurde, breiter, als es mit einem inklusiv besetzten Film möglich wäre?

Da würde ich Sie gern zu einer Rückfrage einladen: Angenommen, wir würden jetzt nicht über Menschen mit und ohne Behinderung diskutieren, sondern über Männer und Frauen. Und ein Mann würde genauso argumentieren: Kompetenz sollte den Vorzug vor dem Geschlecht haben, und es gibt ja auch Männer, die sich empathisch in Frauen einfühlen können. Das sind die Argumente, die wir die letzten Jahrzehnte gehört haben und die uns dahin gebracht haben, wo wir jetzt sind. Ich glaube, wir brauchen die Erkenntnis, dass Empathie nicht reicht. Es reicht nicht, dass Tom Schilling – nichts gegen Tom Schilling – drei Tage mit einem Menschen im Rollstuhl trainiert und dann gut genug ist, um eine Person im Rollstuhl zu spielen. Jeder Rollstuhlfahrer sieht, dass das nicht authentisch ist. Es gibt ja auch keine weißen Menschen mehr, die People of Color spielen, trotzdem sind die Geschichten immer noch vor allem weiß geprägt.

Wobei es gerade in dem Bereich tatsächlich inzwischen immer öfter vorkommt, dass »farbenblind« besetzt wird …

… aber anscheinend ist es für Caster*innen leichter, blind zu besetzen, wenn es um die Hautfarbe und nicht um Behinderungen geht. Warum gibt es keinen Tatort-Kommissar mit Behinderung? Es gibt ein oder zwei Tatorte mit Tan Çağlar, dem Comedian im Rollstuhl, aber das sind nur Gastauftritte. Erwin Aljukic hat mir in meiner Fernsehsendung erzählt, in seiner Rolle war festgeschrieben, dass er der notorische Single ist. Irgendwann hat er das infrage gestellt. Warum bin ich eigentlich immer Single in dieser Rolle? Und wenn es Beziehungen gibt, warum zerbrechen sie immer an der Behinderung? Wenn Schauspieler mit Behinderung solche Entscheidungen infrage stellen, werden ihre Rollen schnell ganz gekappt. Sie kennen doch sicherlich Christine Urspruch, die kleinwüchsige Pathologin vom Tatort Münster. Sie hatte eine ZDF-Serie, die allen Ernstes Dr. Klein hieß: Wer sitzt denn da in der Redaktion und überlegt sich, haha, eine kleinwüchsige Pathologin, wir nennen das Ganze Dr. Klein. Und warum ist der Widersacher Herr Lang? Also, wir sind doch nicht im Kindergarten. Das sind Annahmen von Redaktionen und Filmemacher*innen, die es dem Publikum angeblich leicht machen wollen. Aber wenn wir uns anschauen, welche Filme und Serien wirklich Überraschungserfolge waren, dann waren das solche, die die Dinge anders erzählt haben als im Vorabendprogramm.

Das ist aber ehrlich gesagt generell ein Problem im deutschen Fernsehen, völlig unabhängig von Diskriminierungsszenarien; da heißt es immer, dies oder jenes kann man dem Zuschauer nicht zumuten. Gleichzeitig haben bei uns die britischen und skandinavischen Serien enormen Erfolg, die es eben anders machen.

Ich glaube, das hängt alles zusammen. Und offenbar ist es gesellschaftlich akzeptierter, People of Color oder queere Menschen blind und vielfältig zu besetzen, als Schauspieler*innen mit Behinderung, obwohl Menschen mit Behinderung die am schnellsten wachsende Minderheit sind …

… tatsächlich gibt es in Deutschland fast 10 Prozent schwerstbehinderte Menschen …

… und trotzdem sind nicht zehn Prozent der Schauspieler Menschen mit Behinderung. Dazu muss man sagen, Schauspieler*innen in Deutschland sind auch nicht alle jung. Und bin ich eigentlich schon behindert, wenn ich eine Brille trage? Wann ist Alter eine Behinderung? Die Grenzen sind fließend.

Wie definieren Sie Behinderung? Sicherlich ist es leichter, einen Autisten oder einen Menschen mit Tourette­syndrom authentisch zu besetzen als einen geistig oder körperlich schwer eingeschränkten Menschen. 

Man kann ganz einfach die Formulierung benutzen: Behindert ist, wer Hilfe braucht. Da braucht man nicht zwangsläufig eine Diagnose, situativ ist man mal behindert, mal nicht. Gehen Sie in den türkischen Supermarkt, und Sie sind sprachbehindert, weil Sie nicht verstehen, was das für Produkte sind, beziehungsweise nur, wenn Sie Google Translate bemühen. Natürlich gibt es Barrieren, die nicht so ohne Weiteres überwindbar sind. Ja, es gibt Behinderungen, die so schwer sind, dass er oder sie wahrscheinlich nicht Schauspielerin wird. Das will ich gar nicht in Abrede stellen, es kann auch nicht jede Frau und jedes Kind Schauspieler*in werden. Und es wird auch nicht jedes Kind Astronautin, sondern nur drei pro Generation. Aber die Möglichkeit, Schauspieler*in oder Astronaut*in zu werden, sollte theoretisch jeder haben. Niemand sollte von vornherein ausgeschlossen werden.

Warum hat es denn, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, bei Peter Dinklage, dem Darsteller des Tyrion Lannister in der Serie »Game of Thrones« funktioniert?

Er ist einfach ein unfassbar guter Schauspieler. Natürlich gibt es, so wie unter nicht behinderten Schauspielern, Ausnahme­erscheinungen. Das Entscheidende ist aber, dass er die Chancen bekommen hat, sich auszuprobieren und zu entwickeln, den Rohdiamanten zu schleifen. Und ich nehme mal an, das sind Chancen, die er in den USA leichter bekommen hat als in Europa.

Was müsste passieren, damit sich das ändert? Sie arbeiten ja auch als Berater für Film- und Fernsehproduktionen: Könnte da eine Art Äquivalent zum an vielen Sets eingeführten Intimacy-Coach helfen?

Es gibt auf Disney+ eine tolle Dokumentation über Pixar. Die haben eine eigene Abteilung, die darauf achtet, dass die gezeigten Charaktere zu 50 Prozent männlich und 50 Prozent weiblich sind. Selbst wenn es ein Briefkasten mit Gesicht ist, muss erkennbar sein, was für ein Geschlecht er hat. Da sitzen Leute, die das zählen, selbst wenn es nur ein Fußgänger ist, der im Hintergrund läuft. Jede Figur wird nach diesen Kriterien bewertet und gegebenenfalls umgeschrieben. So etwas könnte man im klassischen Film auch machen. Eine Art Diversity-Koordinator, der schaut, ob der gesellschaftliche Schnitt abgebildet wird, das wäre ein Anfang.

Ohne Zweifel gibt es da ein Defizit, aber muss oder kann jeder Film, jede Serie die komplette Bevölkerung abbilden? Ist das wirklich die Sorte Film, die wir sehen wollen?

Wenn wir von Realismus sprechen, müssen Sie auch hinterfragen, warum Sex in Holly­woodfilmen immer mit BH läuft! 

Na klar ist das unrealistisch, wenn alle direkt nach dem Sex aus dem Bett steigen und Unterwäsche tragen …

Da wird Authentizität ein Thema, aber wenn es um Behinderung geht, wird immer noch diskutiert, ob das jetzt womöglich zu bunt wird. Ob Arielle wirklich schwarz sein könnte? Arielle ist eine Fantasiefigur, die könnte auch blau sein! Was ist das Problem? Natürlich führt jede gesellschaftliche Veränderung dazu, dass das Pendel erst mal von einem Extrem ins andere schwingt, bis es sich hoffentlich normalisiert. Und ja, es gibt mittlerweile Filme wie »Encanto«, wo jeder Charakter Vielfaltsmerkmale hat. Dieses Argument, man könne es ja auch irgendwie übertreiben, ist das gleiche, mit dem Männer kommen, wenn es um Frauenrollen geht. Wenn Frauen als Kanzlerin, Wissenschaftlerin, Börsen­expertin auftreten, heißt es schnell, man kann es auch übertreiben – das kennen Sie doch als Frau wahrscheinlich … 

In der Tat hatte ich bei der Vorrecherche zu diesem Interview immer wieder das Gefühl, das kommt mir bekannt vor.

Was ich mit diesem Buch zeigen möchte, ist, wo Ausreden bemüht wurden, statt es einmal zu versuchen. Diese Ausreden kommen immer schneller als der Versuch. Helden haben keine Ausreden. Dann probieren wir es halt mal, schauen wir doch mal, wie weit wir kommen. Und ja, wir werden auf Probleme stoßen, wir werden vielleicht scheitern. Aber wenn ein Kind Angst hat vorm Laufen, weil es umfallen könnte, wird es nie laufen lernen.

Wie fanden Sie denn zum Thema Sexualität, im Sinne einer Teilhabe am Leben in allen Bereichen, den Film Touch Me Not und die Entscheidung, ihm den Goldenen Bären zu geben? Entspricht das Ihren Argumenten?

Das war eindeutig ein künstlerischer Film, ohne klassische Filmhandlung oder Heldenreise. Da wurden verschiedene Körper gezeigt, die sich unterschiedlich entdeckt und erforscht haben, mit einer großen Offenheit und einer Regisseurin, die sich ihrer eigenen Unsicherheit gestellt hat. Toll, würde ich sagen; allerdings wird das kein Werk sein, das die Kinosäle füllt. Aber ich kann Ihnen auf Arte die argentinische Serie »1 Meter 20« empfehlen, über einen Teenager im Rollstuhl, der zum ersten Mal Sex haben will, erzählt aus der weiblichen Perspektive: Auch da befreit sich eine Person mit Behinderung selbst. Noch nie habe ich so authentischen Behindertensex in einer großen Produktion gesehen.

Meinung zum Thema

Kommentare

Sehr geehrte epd-film, sehr geehrte Frau Sterneborg, ich bin leider furchtbar spät dran mit meiner Rückmeldung zu diesem Interview, aber es ist mir all die Monate schon ein Anliegen, Sie wissen zu lassen, wie sehr mir der Artikel gefallen hat und wie gut ich finde, daß Sie es gedruckt haben. Meiner Ansicht nach hatte Frau Sterneborg sehr sorgfältig recherchiert und sich beeindruckend vorbereitet auf das Interview, so daß sie sehr treffende und angemessene Fragen stellen konnte. Herr Krauthausen hingegen, dessen Arbeit als Aktivist ich sehr schätze, beantwortete diese oftmals nur mit einer Art Beißreflex. In der Tat ist der Film "Coda" nur das amerikanische Remake des Films von Caroline Link von 1996, der seinerzeit und eigentlich bis heute sehr positiv vom Publikum und auch von der gehörlosen/tauben community bewertet wurde und wird, wurde die Regisseurin doch nicht zuletzt mit dem Sonderpreis des Kulturpreises des Deutschen Gehörlosenbundes ausgezeichnet. Bei der Besetzung der Rollen in ihrem Film wurde durchaus hinterfragt, warum sie eine französische Schauspielerin und einen amerikanischen Schauspieler für die Rollen der Eltern ausgewählt hatte, die beide für die Dreharbeiten die Deutschen Gebärdensprache erlernen mußten. Aber taub/gehörlos waren sie beide! Hier hätte ich mir diese wertschätzenden Hintergrundinformationen in der Antwort von Herrn Krauthausen gewünscht, die Frau Sterneborg für ihr wirklich sorgfältig und einfühlsam geführtes Interview verdient hätte. Mit freundlichen Grüßen,
Esther Ingwers

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