Napoleon im Film

Massen, Macht und Größenwahn
»Napoleon« (2023). © Sony Pictures / Apple

»Napoleon« (2023). © Sony Pictures / Apple

Stanley Kubrick hat Bodenproben in Waterloo gesammelt, Sergei Bondartschuk über »Krieg und Frieden« mehrere Herzinfarkte ­erlitten, und Abel Gance ist mit 400 000 Metern Zelluloid nicht mal bis zur Kaiserkrönung gekommen. Jetzt bringt Ridley Scott einen ­neuen »Napoleon« ins Kino. Was ist so faszinierend am Leben und Wirken des Polit-Aufsteigers aus Korsika?

»Sein Leben hat alles, was eine gute Story braucht. Einen überragenden Helden, mächtige Feinde, bewaffnete Kämpfe, eine tragische Liebesgeschichte, treue und verräterische Freunde. Und viel Tapferkeit, Grausamkeit und Sex,« hat Stanley Kubrick mal gesagt.

In der Tat steckt die Geschichte von Napoleon Bonaparte voller Dramatik: Der Aufstieg eines Niemands aus einfachen korsischen Verhältnissen zum Star-General der Revolutionsarmee, zum Ersten Konsul, dann zum Kaiser und Herrscher über einen Großteil Europas, bevor seine Selbstüberschätzung den bis dahin scheinbar Unbesiegbaren zu Fall bringt – mit dem totalen Desaster bei Waterloo als blutigem Finale und einem einsamen Nachspiel auf einer gottverlassenen Insel im Atlantik. Was an dem rastlosen Machtmenschen zusätzlich fasziniert: Trotz all seiner Feldzüge fand er Zeit für diverse Liebschaften, auch neben der womöglich einen großen Liebe seines Lebens, Joséphine de Beauharnais. An seinem Mythos strickte er selbst schon zu Lebzeiten, und sogar sein Erscheinungsbild hat der gar nicht so kleine Korse – 1,68 waren zu seiner Zeit Normalmaß – unverwechselbar gestaltet. Wer eine gedrungene Gestalt mit schwarzem Zweispitz und schlichtem grauem Reitermantel sieht, weiß sofort, wer gemeint ist.

Die Erwartungen an Ridley Scotts Interpretation dieser mehr als schillernden Figur sind hoch. Stilbewusst und historisch stimmig hat er die Zeit Napoleons bereits in seinem wenig bekannten, sehr sehenswerten Erstling »Die Duellisten« von 1977 dargestellt. Mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle und immensem Aufwand verheißt das neue Werk aber nicht nur ein opulentes Panorama jener fernen Epoche und ein Drama aus Krieg und Liebe, sondern auch eine zeitgemäße Deutung der Figur, eines Mannes mit dem unbedingten Willen zur Macht, von seinen Anhängern geliebt, von allen anderen gefürchtet und gehasst. Passt ­Napoleon nicht fast zu gut in unsere Zeit, in der machtgierige und skrupellose »starke Männer« in der Weltpolitik wieder für Unruhe sorgen?

Doch vielleicht ist der Fall Napoleon komplizierter. Seine Persönlichkeit, seine Taten sind voller Widersprüche und gerade deshalb eine ideale Projektionsfläche. Auch wenn die meisten Filme ihn wenigstens in groben Zügen ähnlich bewerten – genialer Stratege, entschiedener Machtmensch, zumindest in späteren Jahren größenwahnsinnig –, lässt er sich schwerlich zu einer Inkarnation des reinen Bösen stilisieren. Der junge Bonaparte verkörperte die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und war für Millionen Europäer Hoffnungsträger, bevor er zum Schreckgespenst wurde. In vielfacher Hinsicht ist er eine Schwellenfigur, zwischen der Zeit der Aufklärung und der Romantik, zwischen Revolution und der Restauration absoluter Herrschaft. Und er ist vieles gleichzeitig: auf der einen Seite visionärer Reformer, Befreier von verkrusteten Feudalstrukturen, Gesetzgeber (Code civil!) und Förderer der Menschenrechte – auf der anderen Seite selbst ein despotischer Herrscher und Verschwender von Menschenleben, gewissenlos genug, 4000 Kriegsgefangene in Jaffa einfach abschlachten zu lassen. Passend dazu bietet er sich je nach Phase seiner Karriere als Projektionsfläche für verschiedenste Aspekte menschlicher Existenz an, zwischen Ehrgeiz und Hybris, Mut und Macht, Gewissen und Skrupellosigkeit, Berechnung und Leidenschaft, Liebe und Brutalität.

Kein Wunder also, dass diese janusköpfige Gestalt so häufig die Leinwand heimgesucht hat, seit seinem ersten Auftritt in Louis Lumières »Entrevue de Napoléon et du Pape« im Jahr 1897, in dem er aus Wut eine Vase zerbricht. Mehr als 300 Filme sollen bis heute über ihn gedreht worden sein, und jede Menge Stars haben ihn gespielt. In vielen Filmen ist er freilich wenig mehr als ein ­Deus ex Machina, dessen historische Triumphe und Niederlagen schicksalhaft auf die Hauptfiguren einwirken. So kann er als Filmgestalt zwar eine Nebenfigur bleiben, eine Chif­fre oder nur ein Name und dennoch Dreh- und Angelpunkt der Handlung sein. Als Emblem des Größenwahns ist er natürlich immer wieder auch eine Einladung zum Klamauk: So macht ihn Woody Allen in »Die letzte Nacht des Boris Gruschenko« zur Karikatur eines klischeefranzösischen Charmeurs und Schürzenjägers, bei Terry Gilliam sitzt er, während ringsum die Schlacht von Castiglione tobt, in einer Ruine und ergötzt sich am Kasperletheater: ein infantiler Geck, der an dem – natürlich erst später so benannten – »Napoleon-Komplex« leidet und daher die klein gewachsenen »Time Bandits« sofort sympathisch findet. Ian Holm, als Napoleon-Darsteller ein Wiederholungstäter, bietet in seinen wenigen Filmminuten eine großartig verrückte Darstellung.

Wenn wir uns den ernsthafteren und größer angelegten Versuchen zuwenden, die Napoleonischen Kriege filmisch darzustellen, drängen sich Listen mit beeindruckenden Zahlen auf. Beispielsweise die sieben Jahre Produktions- und vier Jahre Drehzeit, Hunderte Schauspieler, 12 000 Statisten und 23 Tonnen Schwarzpulver, die Sergei Bondartschuk für seine Verfilmung von Tolstois »Krieg und Frieden« aufwenden durfte. Man könnte eventuell noch die zwei Herzinfarkte hinzufügen, die ­Bondartschuk während der Dreharbeiten erlitt und überlebte. Ab 1966 in vier Teilen mit insgesamt sieben Stunden Länge veröffentlicht, malt die sowjetische Antwort auf King Vidors auch nicht bescheidene, dagegen jedoch in jeder Hinsicht blasse Version von 1956 ein visuell überwältigendes Panorama Russlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der napoleonischen Invasion 1812. Die Massenszenen, ganz besonders die Schlacht von Borodino, sind von einschüchternder Monumentalität und virtuos inszeniert. Und Napoleon? Obwohl er der beständige Treiber der Handlung ist und er und der russische General Kutusow als Gegenspieler aufgebaut werden, hat der Kaiser (dargestellt von Wladislaw Strscheltschik) nur wenige Szenen. Zuerst genügt sogar seine Silhouette, im Gegenlicht der untergehenden Sonne vor dem Schlachtfeld von Austerlitz. Spätere Schlachtszenen zeigen ihn als ruhenden Pol im Chaos – ein gefühlskalter Stratege, ein Massenmörder. »Er hat sich losgesagt vom Wahren, vom Guten, von allem, was menschlich ist«, urteilt der Erzähler.

Nicht nur der entscheidenden Schlachten wegen spielen Massenszenen in Napoleon-Filmen eine zentrale Rolle. Es geht dabei immer auch um das Verhältnis der Macht zur Masse, in Napoleon konzentriert – und häufig idealisiert – als individuelles Charisma, das den Feldherrn respektive Kaiser erst befähigt, seine Armeen, sein Volk zu führen – wenn es sein muss, in den sicheren Tod. Dafür gibt es verbürgte historische Szenen, die kaum ein Biopic über den Korsen auslässt. Besonders filmisch und entsprechend häufig verfilmt ist jener Moment im März 1815, als Napoleon mit wenigen hundert Getreuen von Elba zurückkehrt, um die Macht noch einmal an sich zu reißen. Eine große Übermacht an Truppen soll ihn aufhalten. Napoleon kommt ihnen allein bis auf Schussweite entgegen und ruft: »Tötet ­euren Kaiser! Ihr könnt es!« – woraufhin das gesamte Bataillon in »Vive L’Empereur!«-Rufe ausbricht und sich ihm anschließt für den Marsch auf Paris.

Diese Szene verarbeitet auch Bondartschuk 1970 in »­Waterloo«, seinem von Dino de Laurentiis produzierten Nachfolger zu »Krieg und Frieden«, eine der teuersten Produktionen ihrer Zeit – und ein gewaltiger Kassenflop. Die Schilderung von Napoleons »Herrschaft der 100 Tage« bis zur endgültigen Niederlage schwelgt abermals im zutiefst ambivalenten ästhetischen Reiz napoleonischer Schlachtordnungen zwischen Schrecken und Schönheit. Die leisen inneren Monologe der Kontrahenten Napoleon und Wellington bilden jedoch einen interessanten Kontrapunkt zum gigantischen Schlachtengemälde. Rod Steiger porträtiert den Rückkehrer aus dem ersten Exil zwischen neu entflammtem, manischem Größenwahn, solange er gewinnt, und fiebriger, schwitzender Erschöpfung in der Niederlage. In ein oder zwei Szenen erinnert dieser ­geschlagene Tyrann gar an einschlägige Filme über Adolf Hitlers letzte Tage im Führerbunker.

Unter den Versuchen, den filmischen Bogen über Napoleons gesamte Biografie zu spannen, darunter etwa der zähe und reichlich beschönigende »Napoleon« von Sacha Guitry (1955) und der opulente, doch recht oberflächliche TV-Vierteiler aus dem Jahr 2002 mit Christian Clavier, ragt ein einziges Werk weit heraus: der Napoleon von Abel Gance – wobei es sich in gewisser Weise um ein gescheitertes Projekt handelt. Denn der fertiggestellte fünfeinhalbstündige Film sollte nur der erste von sechs Teilen sein. So deckt er auch lediglich die frühen Jahre Bonapartes ab, vom Zwölfjährigen an der Militärakademie bis zum Italienfeldzug 1796. Abel Gance wollte mit seinem akribisch recherchierten gigantomanischen Projekt erklärtermaßen ein »Wunder« vollbringen, eine filmische Offenbarung erschaffen – vielleicht war er da ein wenig von der Hybris seines Vorbilds infiziert. Jedenfalls verbrauchte er für diesen ersten Teil bereits 400 000 Meter Zelluloid sowie das gesamte Budget für alle sechs Teile. Mangels finanziellen Erfolgs des ersten Teils konnte er die anderen Teile nicht mehr verwirklichen, nur »Austerlitz« entstand 1960 noch als spätes weiteres Fragment der Reihe.

Doch was Gance 1927 auf die Leinwand brachte, teils sogar im von ihm entwickelten »Polyvision«-Breitwandverfahren mit dreifacher horizontaler Projektion, war tatsächlich eine unerhörte filmische Leistung: mit rastloser Kamera, Splitscreen-Sequenzen, rasanten Fahrten sowie einer Montage, deren Dynamik heute noch beeindruckt. Ganz zu schweigen von den virtuos inszenierten Massenszenen. Gance wurde allerdings vorgeworfen, Napoleon zu glorifizieren, der Schriftsteller Léon Moussinac bezeichnete seine Darstellung gar als »einen Bonaparte für werdende Faschisten«. Ging es dem erklärten Pazifisten Gance (J’accuse!) aber wirklich um die Verklärung eines Kriegstreibers und Despoten?

Zur Verteidigung muss man anbringen, dass Gance hier nur den ganz jungen Bonaparte zeigt, nicht den sich selbst zum Kaiser krönenden Despoten. Das Porträt des von Albert ­Dieudonné gespielten Korsen ist das eines schweigsamen, brütenden jungen Außenseiters mit hochfliegenden Plänen und glühendem Idealismus – ganz im Geiste der Revolution schwärmt er von einer Welt ohne Grenzen und ohne Kriege. Und trotz aller Überhöhung, trotz Mystifikationen wie der Metapher vom Adler, der für Napoleons Seele steht, weist der Film auch eine ganze Reihe von Ambivalenzen auf. So stellt er die Eroberung Toulons – ein »Glanzstück« des jungen Offiziers – als wüstes, chaotisches Gemetzel in Regen und Matsch dar, und Bonapartes skrupelloser Umgang mit Menschenleben wird zumindest angedeutet.

Ganz anderen Aspekten der Persönlichkeit widmen sich zwei Filme, die den Kaiser der Franzosen aus ganz spezifischem Blickwinkel betrachten: das Greta-Garbo-Vehikel »Maria Walewska« von 1937 in der Regie von Clarence Brown und mit Charles Boyer als Napoleon – sowie Henry Kosters Desirée mit Jean Simmons und Marlon Brando. Beide decken viele Jahre von Napoleons Herrschaft ab, konzentrieren sich dabei aber auf Frauen, die ihn – mehr oder weniger tragisch – lieben. Im ersten Film ist das die polnische Gräfin Maria Walewska, in die sich der Kaiser und große Charmeur verliebt, die sich aber zunächst nur auf ihn einlässt, um sich für die polnische Unabhängigkeit einzusetzen – bis sie von wahrer Zuneigung ereilt wird. Im zweiten ist es Désirée Clary, Tochter eines Marseiller Kaufmanns, die ein Verhältnis mit dem jungen General Bonaparte beginnt, nach dessen Hochzeit mit Joséphine den Grafen Bernadotte ehelicht und an dessen Seite schließlich Königin von Schweden wird. Kaum Massenszenen, vielmehr kammerspielartige und intime Momente sind es, die Napoleon in beiden Filmen ganz unterschiedlich zeigen. Charles Boyer verleiht ihm in »Maria Walewska« in elegantem Habitus zunächst widersprüchliche Nuancen zwischen Sehnsucht und Überheblichkeit, später ist er zum eisigen Tyrannen ohne Skrupel geworden. Einem sterbenden Soldaten seiner »Grande Armée« auf dem Rückzug aus Russland, der die Sinnlosigkeit der Kriege des Kaisers beklagt, hört er zunächst zu, wendet sich dann aber ab mit den Worten: »Ich habe keine Schuld.« Marlon Brando in »Desirée« bleibt dagegen den ganzen Film vor allem eines: Marlon Brando. Man sagt, er habe sich so schlecht mit Henry Koster vertragen, dass er seine Rolle aus Trotz betont exzentrisch anlegte.

Aus gänzlich ungewöhnlicher Perspektive ist »Adieu Bonaparte« von 1985 erzählt: Youssef Chahine schildert Napoleons Ägypten-Feldzug 1798 als ein Stück Kolonialgeschichte aus der Perspektive der Ägypter, die zunächst auf Befreiung vom osmanischen Joch hoffen, dann aber bitter enttäuscht werden. Napoleon (Patrice Chéreau mit stechendem Blick) ergeht sich in Eigenlob über seine »erhabene zivilisatorische Mission«, erweist sich jedoch als kalter Ehrgeizling, der mit einstudierten Bonmots am eigenen Ruhm arbeitet und nebenbei mühelos Massaker begeht. 

Wie erstaunlich vielseitig Napoleon auch in politischer Hinsicht interpretierbar ist, zeigte sich in den 1920er und -30er Jahren. Diente sein Beispiel in französischen Filmen nach dem Ersten Weltkrieg, mindestens ansatzweise auch bei Abel Gance, der Beschwörung nationaler Einheit und Größe, wird er in faschistischen Ländern je nach Bedarf zur Verkörperung eines starken Führers oder zum Inbegriff der Bedrohung der Nation durch einen übermächtigen Feind von außen. In einer Coproduktion zwischen Mussolini-Italien und Hitlerdeutschland von 1935, die in der deutschen Version »Hundert Tage«, in der italienischen »Campo di maggio« heißt, begehrt Werner Krauß – als N. ein weiterer Wiederholungstäter – als aufrechter Staatsmann Napoleon noch einmal gegen die verschlagene europäische Diplomaten-Clique auf. Die Vorlage war ein Bühnenstück von Benito Mussolini und Giovacchino Forzano, und angeblich gab der »Duce« Werner Krauß sogar eine Anleitung zur korrekten Verkörperung des Helden. 

Dagegen ist der Napoleon des enorm aufwendigen, berüchtigten Durchhaltefilms »Kolberg«, der noch Anfang 1945 in die deutschen Kinos gebracht wurde, ein Bösewicht, wie er auch zu James Bond passen würde. Finster und unendlich arrogant befiehlt er 1807, die letzten Widerstandsnester Preußens dem Erdboden gleichzumachen. Doch das Städtchen Kolberg hält durch, in bester Nazimanier motiviert von Heinrich George: »Wer sich kampflos ergibt, hat es nicht besser verdient, als ausgerottet zu werden!« 

Blieb das bisher wohl beste, zumindest aufsehenerregendste Biopic, das von Abel Gance, ein Fragment, so sind zwei weitere große, verheißungsvolle Napoleon-Projekte erst gar nicht gedreht worden. Ausgerechnet Charles Chaplin verfolgte einige Jahre lang den Plan, einen epischen Film über den Korsen zu realisieren, in der Hauptrolle: Charles Chaplin. 800 Seiten Material dazu lagern heute in der Cineteca di Bologna, darunter mehrere Drehbuchversionen. Bis Chaplin sein Herzensprojekt 1936 aufgab, hatte es mehrere Metamorphosen durchlaufen. Schließlich sollte es eine Art Doppelgängergeschichte werden und mit einer großen Rede des geläuterten Napoleon enden, in der er leidenschaftlich für Frieden und Freiheit plädiert . . . So wurde der Tod des einen Films schon die Keimzelle für einen anderen, über einen aktuelleren »Großen Diktator«.

Und dann war da natürlich Stanley Kubrick. Ebenfalls über Jahre hinweg bereitete er seinen großen Napoleon-Film vor, der das ganze Leben des Korsen abdecken, sowohl präzises Zeitporträt als auch monumentaler Actionfilm und leidenschaftliches Liebesdrama werden sollte. Historische Drehorte waren erkundet, die rumänische Armee stand für die Schlachtenszenen quasi in den Startlöchern, spezielle günstige Uniformen für die Statisterie wurden schon angefertigt, und besonders lichtempfindliche Kamera-Objektive für Szenen bei Kerzenlicht waren auch auf dem Weg. Noch mehr Recherchen als für all seine stets akribisch vorbereiteten anderen Werke hatte Kubrick betrieben. 

Wieder kann man Listen mit beeindruckenden Zahlen erstellen: Fast zwei Dutzend Assistenten trugen in den Jahren 1968 und 1969 Material aus ganz Europa zusammen, eine Bi­bliothek mit 500 Büchern über Napoleon kam zusammen sowie eine Sammlung von 18 000 zeitgenössischen Abbildungen. In einem Karteikartensystem ließ Kubrick die napoleonische Chronologie Tag für Tag und nach Personen aufgeschlüsselt dokumentieren. Sogar Bodenproben aus Waterloo sollen gesammelt worden sein, um den Schlamm akkurat rekonstruieren zu können. Für die Titelrolle standen illustre Namen zur Debatte: Oskar Werner, Ian Holm, auch Jack Nicholson war im Gespräch. Kurz: Es war ein Projekt so ambitioniert wie ein napoleonischer Feldzug, und vielleicht auch inspiriert von napoleonischem Größenwahn: »I expect to make the best movie ever made«, schrieb Kubrick. 

Umso tragischer das Scheitern, ein Waterloo auf Raten. Erst stieg Metro-Goldwyn-Mayer aus, dann United Artists, und obwohl Kubrick noch einige Zeit weiter nach Finanziers suchte, war – erst recht nach dem Desaster von Bondartschuks »Waterloo« – kein Studio mehr bereit, auf ein napoleonisches Großprojekt zu setzen. Hätte Kubrick den definitiven Napoleon-Film gedreht? Seinen Mythos in überwältigenden Bildern beschworen, um ihn umso gründlicher zu dekonstruieren? Wie reizvoll, dass man darüber nur spekulieren kann. Immerhin: Viele der Vorbereitungen flossen in Kubricks wunderbare Thackeray-Verfilmung »Barry Lyndon« von 1975 ein. Auch das Zeiss-Objektiv f0.7 fand für die Kerzenlicht-Szenen Verwendung. Und sogar Kubricks Napoleon-Drehbuch hat ein spätes Nachleben: Erst diesen Februar erklärte Steven Spielberg, er bereite auf dessen Basis eine Miniserie für HBO vor. 

Das filmische Napoleon-Karussell wird sich also auch nach Ridley Scott weiterdrehen. Abel Gance hatte übrigens eine recht einfache Erklärung für die anhaltende Faszination der Filmemacher: »Napoleon war der größte Regisseur überhaupt.«

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