Nahaufnahme von Sabine Timoteo

Vom Fremdsein in der Welt
Sabine Timoteo in »Die Mitte der Welt« (2016) © Tom Trambow

Sabine Timoteo in »Die Mitte der Welt« (2016) © Tom Trambow

Die Schweizerin Sabine Timoteo wurde in den nuller Jahren mit ­Filmen von Philip Gröning, Christian ­Petzold und Matthias Glasner bei uns bekannt. Wenn sie mitspielt, muss man einfach hinschauen . . . Auch wenn es ­Nebenrollen sind, wie in »Sunburned«

Wieder einmal hat sich Karl von seinem neuen Bekannten Hans zu etwas verleiten lassen, was eigentlich gar nicht zu ihm passt. Aber über den Punkt, an dem ihn das noch stören würde, ist der Versicherungsmathematiker längst hinaus. Er lässt es einfach geschehen und entdeckt dabei auch sich selbst neu. Nun sitzt er zusammen mit Hans und dessen Freundin Stelle in einem Café am Düsseldorfer Flughafen. Die drei, die noch kein Dreieck sind, es aber bald sein werden, scherzen und lachen. Hans setzt sich in Szene, und Karl zieht nach. Nur Stelle hält sich zurück. Sie ist es auch, die vorschlägt, dass sie die Augen schließen, für eine Minute schweigen und nur dem Treiben um sie herum lauschen. Am Ende dieser einen Minute beginnt sie plötzlich, ganz leise zu singen: »Ich bin der Welt abhandengekommen . . .«

Meist steht Stelle in Sebastian Schippers »Ein Freund von mir« (2006) im Schatten der beiden Männer, die sich um sie bemühen und doch mehr miteinander beschäftigt sind. Schippers überdrehte Buddy-Komödie ist sowieso eher ein klassischer Jungsfilm, in dem Daniel Brühl und Jürgen Vogel ­ihren Launen und Marotten freien Lauf lassen können. Frauen sind kaum mehr als schmückendes Beiwerk. Doch damit gibt sich Sabine Timoteo nicht zufrieden. In den wenigen Szenen, in denen sie auftritt, verändert sich der Ton des Films schlagartig. Er wird ruhiger, sehnsuchtsvoller und melancholischer.

Wenn Stelle auf einmal Gustav Mahlers elegisches Lied anstimmt, scheint ein anderer Film in dieser schon ein wenig selbstverliebten Komödie auf. Sie entzieht sich so nicht nur dem hyperaktiven Wahnsinn ihres Freundes Hans. Zugleich setzt Sabine Timoteo mit ihrer eigenwilligen Interpretation ein Zeichen. Plötzlich erfüllt eine emotionale Intensität die Bilder, die Schipper vorher nur behaupten konnte. »Ich bin der Welt abhandengekommen.« Die Wehmut, die in dieser Zeile Friedrich Rückerts liegt, schwebt fortan über dem Film und verleiht ihm Tiefe. Und sie weist weit über diese Geschichte zweier Männer und der Frau zwischen ihnen hinaus.

Im Lauf ihrer Schauspiel- und Filmkarriere, die 2000 in Philip Grönings »L'amour, l'argent, l'amour« mit einem Paukenschlag begann, hat die 1975 in Bern geborene Schauspielerin immer wieder Frauen gespielt, die der Welt auf die eine oder andere Weise abhandengekommen sind. Schon Marie, die junge Berliner Prostituierte in »L'amour, l'argent, l'amour«, die sich Hals über Kopf dafür entscheidet, mit dem noch ein paar Jahre jüngeren Gelegenheitsarbeiter David (Florian Stetter) in Richtung Westen aufzubrechen, wirkt wie eine Fremde in ihrem eigenen Leben.

Immer wieder schlagen Maries Gefühle um. Im einen Moment klammert sie sich an den naiven Träumer David. Im nächsten stößt sie ihn mit aller Macht von sich. Und so ist es auch mit ihrer Arbeit. Manchmal erscheint sie Marie ganz gewöhnlich. Dann wirkt sie sogar glücklich, als ob sie in diesem Leben schier grenzenlose Freiheit fände. Und manchmal scheint sie endgültig an ihr zu zerbrechen. In diesen extremen Stimmungsschwankungen, in die sich Timoteo rückhaltlos hineinstürzt, in denen sie mit ihrem kompromisslosen Spiel regelrecht aufzugehen scheint, deutet sich eine psychische Störung, eine Borderline-Persönlichkeit, an.

Aber es bleibt bei der Andeutung. Philip Gröning sucht nicht nach psychologischen oder gar medizinischen Erklärungen für die Handlungen seiner Figuren. Ihm geht es, wie der Filmtitel betont, in dem sich das Geld zwischen die Liebe drängt, um systemische Zusammenhänge. In einer von den Gesetzen des Marktes beherrschten Welt ist letztlich nur ein absolut prekäres Leben möglich, ein Leben einzig im Augenblick. Und wie dieses Leben auf der einen Seite zur Selbstverständlichkeit wird und auf der anderen die Menschen innerlich zerfrisst, davon zeugt Sabine Timoteos Spiel. Es ist ein steter Tanz am Rande des Abgrunds.

Grönings radikales Porträt zweier Liebender, die durch das Raster der Gesellschaft gefallen sind und im Sturz vielleicht sogar ihr größtes Glück finden, ist fast zur Blaupause für Sabine Timoteos spätere Rollen geworden. In Maria Speths »In den Tag hinein« (2001) und in Christian Petzolds »Gespenster« (2005), auch in »Die Freunde der Freunde« (2001), Dominik Grafs freier Adaption einer Erzählung von Henry James, hat sie Frauen gespielt, die haltlos durch die Welt und das Leben treiben. Wer wie der Abiturient Gregor in Grafs experimentellem Melodrama versucht, sie zu halten oder gar zu retten, wird am Ende allein zurückbleiben. Billie, die den falschen Mann geheiratet und sich so ins Unglück gestürzt hat, ist nicht zu retten. Und in seinem tiefsten Innern weiß Gregor das auch. Aber diese schwindelerregende Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit, Hoffnung und Resignation, die Sabine Timoteo in jeder Einstellung von »Die Freunde der Freunde« ausstrahlt, hat auch etwas Verführerisches.

Wer der Welt oder zumindest dem gewöhnlichen Alltag abhandengekommen ist, übt eine besondere Faszination aus. Ungeheure Intensität erfüllt Timoteos Figuren. Sie scheinen lichterloh zu brennen, in ihrem Glück ebenso wie in ihrer Verzweiflung. Aber dieses Feuer, das sie in sich tragen, verzehrt sie nicht nur; es lässt sie auch wie die geheimnisvolle, die zutiefst egoistische Mimi in »Das Vaterspiel«, Michael Glawoggers Verfilmung von Josef Haslingers gleichnamigem Roman, auf eine unvergleichliche Weise erstrahlen. Wie »Ein Freund von mir« ist Glawoggers Reflexion über die inneren Verwüstungen, die das 20. Jahrhundert in Vätern und Söhnen hinterlassen hat, ein Film der Männer. Mimi treibt die Ereignisse voran und schickt den Protagonisten Ratz auf eine Reise ins Ungewisse seiner eigenen Abgründe, aber sie selbst bleibt eine Nebenfigur – die allerdings weitaus interessanter ist als all die männlichen Täter, die auch noch bemitleidet werden wollen.

Anders als Männer, die letztlich so leicht zu durchschauen sind, umgibt Sabine Timoteos Mimi ein Geheimnis. Man kehrt in Gedanken immer wieder zu ihr zurück und kommt nicht los von ihr, weil sich die einzelnen Szenen mit ihr nicht zu einem vollständigen Bild formen wollen. Auch das ist typisch für Timoteos Spiel und Charakterzeichnung. Sie lässt immer Leerstellen, setzt bewusst Irritationen. So war es in »L'amour« und später in Matthias Glasners schmerzlich konsequentem Drama »Der freie Wille«. Während der von Jürgen Vogel gespielte Triebtäter von Glasners kühlem, aber nie verurteilendem Blick geradezu seziert wird, bleibt Timoteos mal widerborstige, mal zärtliche Nettie ein Rätsel. In ihrem Spiel schwingt eine Geschichte von Missbrauch und Abhängigkeit mit. Aber man kann sich nie sicher sein, ob sie wie der Vergewaltiger Theo nicht aus ihrer Haut herauskann oder ob ihre radikalen Entscheidungen, ihr Leben am Rande der Selbstzerstörung, nicht der tiefste Ausdruck eben jenes freien Willens sind, den Glasner im Titel seines Films beschwört.

Mittlerweile spielt Sabine Timoteo wie in Jakob M. Erwas »Die Mitte der Welt« oder aktuell in Carolina Hellsgårds »Sunburned« Mutterfiguren. Und so wie Stelle, Mimi und selbst Nettie im Schatten der männlichen Figuren zu verschwinden drohten, sind es nun die Kinder, die im Zentrum der Aufmerk­samkeit stehen. Kinder, die auf die eine oder andere Weise Opfer eben der von ihr verkörperten Mütter sind. Denn auch Sophie in Hellsgårds spröder Urlaubsgeschichte, die von Wohlstandsverwahrlosung und vom Gefälle zwischen Europa und Afrika erzählt, und Glass in Erwas Verfilmung von ­Andreas Steinhöfels Roman sind irgendwann der Welt und vor allem ihren Kindern abhanden­­gekommen. Wie die jungen Frauen, die sie früher dargestellt hat, treiben diese Figuren mehr oder weniger ziellos durch ihr Leben. Es gibt keinen Halt und keine Sicherheit – weder mit 25 noch mit 45.

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