(K)ein Medium für Regie?

Auteursserien von Lynch, Sorrentino und Refn
Kyle MacLachlan, Laura Dern, David Lynch am Set von »Twin Peaks«

Kyle MacLachlan, Laura Dern, David Lynch am Set von »Twin Peaks«

Serien sind die Sache ihrer Drehbuchschreiber, heißt es seit jeher. Dabei zeigen die exzentrischen neuen Showprojekte von Kino­regisseuren wie ­David Lynch, Paolo Sorrentino und Nicolas ­Winding Refn, wie Regievisionen das Format revolutionieren könnten

Ein Baby krabbelt langsam über die Körper unzähliger anderer Babys, deren reglose Leiber den Bildkader ausfüllen. Eine seltsame, gerade in ihrer Friedlichkeit verstörende Vision. Während die Kamera weitergleitet, verliert sie das krabbelnde Baby aus dem Blick, und eine andere Perspektive eröffnet sich. Die Körper bilden eine Art von Pyramide. Ihre ­Anordnung erinnert gar an gestapelte Totenköpfe. Schließlich wird der Rücken eines Mannes im päpstlichen Ornat sichtbar, der am Fuß der Pyramide aus dem Berg der Leiber herauskriecht.

Mit dieser bizarren Szene beginnt die erste Episode von Paolo Sorrentinos Serie »The Young Pope«. Sie entpuppt sich wenig später als Traum, geträumt vom fiktiven »jungen« Papst Pius XIII., dem ersten US-Amerikaner in diesem Amt. Er ist gerade gewählt worden und steht nun vor seiner ersten Ansprache an die auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen. Ein kleines Wunder kann da nicht schaden. Also vertreibt er mit zum Himmel ausgestreckten Armen die Regenwolken. Als dann die Sonne über dem Vatikan erstrahlt, beginnt er mit seiner Ansprache, die zunächst in erwartbaren Bahnen verläuft, um schließlich eine radikale Wende zu vollziehen. Schon das Wunder der durch Wolken brechenden Sonne deutete an, dass der Erzählung wie auch den Bildern nicht zu trauen ist. Aber erst als Pius XIII. mit nahezu allen Tabus der katholischen Kirche bricht, wird offensichtlich, dass auch diese Sequenz ein Traum ist.

Der Pomp und die Rituale der katholischen Kirche erweisen sich als perfekter Nährboden für die barocken, immer auch etwas ironischen Bildkompositionen des italienischen Filmemachers Paolo Sorrentino. Die Nähe zu den exaltierten Bildwelten von Filmen wie »Il Divo« und »La Grande Bellezza« ist ebenso offensichtlich wie der Einfluss Federico Fellinis, dessen Erbe Sorrentino schon vor Jahren überaus selbstbewusst angetreten hat.

»The Young Pope« (2016). © Gianni Fiorito

Auf der einen Seite lag die Entscheidung Sorrentinos, sich mit den Pay-TV-Sendern HBO und Sky für ein Serienprojekt zu verbünden, durchaus im Trend der Zeit. Schließlich haben sich in den vergangenen 20 Jahren viele prominente Kinoregisseure den Serien zugewandt. Vorreiter dieser Entwicklung war ohne Frage der New-Hollywood-Veteran Robert Altman, der schon 1988 für HBO die Politserie »Tanner '88« gedreht hat. Sein satirischer Blick hinter die Kulissen des US-amerikanischen Wahl- und Politzirkus war dann 15 Jahre später auch ein Vorbild für »K Street«, Steven Soderberghs bissiges Porträt der Lobbyisten, die in Washington, D.C., versuchen, die Politik im Sinne ihrer Geldgeber zu beeinflussen.

Die Welt der Serien wird seit jeher aber vor allem von Starautoren geprägt, Männern wie David Chase, dem Schöpfer von »The Sopranos« (1999–2007), Alan Ball, dem Kopf hinter »Six Feet Under – Gestorben wird immer« (2001–2005), und David Simon, der schon mit »Homicide« (1997–1999) Fernsehgeschichte geschrieben hatte und mit »The Wire« (2002–2008) zur Legende wurde. Bei allen Unterschieden verbindet diese stilbildenden Serien eins: Die Vision, die hinter ihnen steht, ist die ihrer Chefautoren und Showrunner, oft verkörpert in einer Person. Chase, Ball oder Simon bestimmen zusammen mit ihren Autorenteams neben der Handlung letzten Endes auch den Look der Serien. Die Regisseure der einzelnen Folgen dagegen arbeiten in entsprechend eng gesteckten Grenzen. So unterscheidet sich die eine Episode von »The Sopranos«, die Peter Bogdanovich inszeniert hat, auf den ersten Blick kaum von den Folgen, die Serien-Routiniers wie Timothy Van Patten oder Allen Coulter in Szene gesetzt haben.

Mit dem Siegeszug der aufwendig produzierten Serien von HBO, AMC und Showtime, später dann von Netflix und den Amazon-Studios, entstand eine Industrie, die sich mit dem Studiosystem der goldenen Ära Hollywoods vergleichen lässt: Die Regisseure sind in diesem System zunächst einmal Handwerker, die mit dem vorgegebenen Material arbeiten müssen.

Dabei überrascht es wenig, dass zahlreiche Folgen einer Serie wie »Six Feet Under« von prominenten Vertretern des Independent-Kinos der 90er Jahre inszeniert wurden. Natürlich gibt es auch thematische Verknüpfungen zwischen Balls Serie über eine Bestatterfamilie und den Filmen von Lisa Cholodenko, Nicole Holofcener und ­Rose Troche. Entscheidender aber sind die formalen Anknüpfungspunkte. Balls Vision speist sich direkt aus dem Bilderreservoir eines Independent-Kinos, das auf der einen Seite den Alltag der amerikanischen Mittelschicht abbildet und auf der anderen eben diesem Alltag ein surreales Flair verleiht.

Prinzipiell liegt die Macht über die Gestalt einer Serie also in den Händen der Showrunner. Aber die großen Erfolge, die sowohl die klassischen Pay-TV-Sender als auch die Streamingportale mit ihren Produktionen feiern konnten, haben die Geldgeber etwas risikofreudiger werden lassen. Auf der einen Seite haben sich Formate etabliert, bei denen die Showrunner ganz gezielt nur mit einem einzigen Filmemacher zusammenarbeiten, der alle Episoden einer Staffel inszeniert und damit schon einen deutlich größeren Einfluss auf das Projekt hat. Auf der anderen haben zuletzt prominente Regisseure gelegentlich die Möglichkeit bekommen, wie einst Robert Altman und Steven Soderbergh selbst als Showrunner aufzutreten. So können sie ihre im Kino entwickelten Ideen im Medium der Serie weiterentwickeln. Genau das ist den Wachowski-Geschwistern mit »Sense8« (2015–18), Paolo Sorrentino mit »The Young Pope«, David Lynch mit der dritten Staffel von »Twin Peaks« (2017) und zuletzt Nicolas Winding Refn mit der ersten (und vielleicht auch einzigen) Staffel von »Too Old to Die Young« (2019) gelungen. Jede dieser Serien gleicht einem Solitär, der einen daran erinnert, was in diesem Format noch möglich wäre.

Während die über mehrere Staffeln laufenden Serien immer noch weitgehend von ihren Autoren geprägt werden, hat sich das Format der Miniserie in den vergangenen Jahren zu einem Experimentierfeld für Regisseure entwickelt. Der überschaubare Rahmen dieser Produktionen, die drei bis sechs Episoden umfassen, gibt einem ­Regisseur oder einer Regisseurin die Chance, sich der Serie wie einem Film zu nähern. Das hat 2017 der schwedische Filmemacher Johan Renck einmal in einem Interview betont. Er, der in den vergangenen Jahren unter anderem die Pilotfolgen von Serien wie »Vikings« (seit 2013) und »Bloodline« (2015–17) inszeniert hat, dreht nun nur noch Miniserien wie »The Last Panthers« (2015) und »Chernobyl« (2019).

Schon ein kurzer Blick auf die fünf Episoden von Craig Mazins Rekonstruktion des atomaren Störfalls in Tschernobyl und seiner Folgen offenbart den Unterschied zwischen diesen beiden Arbeitsfeldern. »Chernobyl« ist zwar in erster Linie das Projekt des Autors Craig Mazin. Aber Rencks Stil, seine atmosphärisch ungeheuer dichte Mise-en-Scène, die immer die Landschaft um den explodierten Atomreaktor in den Fokus rückt, gibt der Miniserie ihre emotionale Wucht. Die Bilder der schließlich geräumten Wohnsiedlungen und der Wälder, über denen eine gespenstische Stille liegt, erinnern einen an die wahre Dimension dieser Katastrophe, die von einem politischen System, das nur auf seinen Machterhalt bedacht war, verschleiert werden sollte.

Mit »The Last Panthers« und »Chernobyl« hat sich Renck zu einem originären Auteur-Filmer der Serienindustrie entwickelt. Miniserien wie Lisa Cholodenkos »Olive Kittridge« (2014), Susanne Biers »The Night Manager« (2016), Park Chan-wooks »The Little Drummer Girl« (2018) und Todd Haynes' »Mildred Pierce« (2011) sind weitere Beispiele für die Entfaltungsmöglichkeiten, die sich Regisseuren bieten, wenn sie sich diesem Format zuwenden. Im Guten wie im Schlechten.

Gerade ein eher konventionell und oberflächlich inszeniertes Projekt wie die John-le-Carré-­Verfilmung »The Night Manager« offenbart Schwächen, die sich auch in Susanne Biers Kinofilmen entdecken lassen. Im Gegensatz hierzu profitiert »The Little Drummer Girl«, eine weitere Adaption eines Le-Carré-Romans, augenscheinlich von Park Chan-wooks untrüglichem Gespür für geometrische Formen, in denen sich die Beziehungen zwischen den Figuren ebenso spiegeln wie deren Innenleben. Immer wieder durchschneiden Diagonalen die Bilder der Serie und etablieren so den Eindruck einer zersplitterten Welt. Die Geschichte der Gewalt, die Israelis und Palästinenser teilen, hat sie nicht nur zu erbitterten Feinden werden lassen. Sie macht sie auch zu Gefangenen, denen jede Möglichkeit zur Flucht oder auch zu einem Neuanfang genommen ist.

»True Detective« (Staffel 1, 2014). © HBO

Einer Miniserie gleicht auch die komplett von Cary Fukunaga inszenierte erste Staffel von Nic Pizzolattos »True Detective«. Die extrem enge Zusammenarbeit des Regisseurs mit dem Serienschöpfer hat 2014 für Furore gesorgt. Plötzlich wurde nicht mehr nur über die Geschichte zweier Polizisten diskutiert, die sich während der Ermittlungen in einer rätselhaften Mordserie mehr und mehr selbst verlieren. Auch die Inszenierung der einzelnen Folgen erhielt mehr Beachtung. Statt auf eine geschlossene Ästhetik und Erzählung zu setzen, haben Pizzolatto und Fukunaga gezielt mit Brüchen gearbeitet, die ihnen größere Freiheiten gegeben haben. So ist die letzte Sequenz der vierten Episode, eine gut sechsminütige Plansequenz, in der der von Matthew McCounaughey gespielte Detective Rust Cohle einen fliehenden Verdächtigen verfolgt, eine in dieser Form singuläre Szene. Sie zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Filmtechniken, die ansonsten eine Domäne des Kinos sind, durchaus auch in einer Serie funktionieren können.

Die erste Staffel von »True Detective« bildet so etwas wie das fehlende Glied, das die typischen Autorenserien mit den wenigen »Auteur-Serien« der Regieautoren verbindet. Pizzolatto und Fukunaga sind eigene Wege gegangen, haben dabei aber letztlich nur einen ersten Blick über die Grenzen der Serienform hinausgeworfen. Die eigentlichen Überschreitungen haben sie den Auteur-Regisseuren überlassen, die Serien nicht nur als ein alternatives Arbeitsfeld mit eigenen Gesetzen betrachten, sondern das Format kompromisslos ihren künstlerischen Vorstellungen unterwerfen.

So haben die Wachowskis bei »Sense8« mit acht parallelen Handlungssträngen, die auf allen Kontinenten der Erde spielen, die erzählerischen Möglichkeiten, die sich im Rahmen einer Serie bieten, auf teils grandiose, teils irritierende Weise ausgelotet. In der für ihr Schaffen typischen extrem bunten Ästhetik, die nicht vor Trash zurückschreckt, haben sie tatsächlich einen eigenen Kosmos erschaffen. »Sense8« greift philosophische Fragen nach der Bedeutung von Synchronizitäten und Zufällen auf und nähert sich ihnen mit einer spielerischen Offenheit, die im Kino, das sich mit ganz anderen zeitlichen Begrenzungen arrangieren muss, nahezu undenkbar wäre.

Paolo Sorrentino beschreitet mit »The Young Pope« quasi den entgegengesetzten Weg. Die Handlung ist hier kaum mehr als ein Aufhänger für pompöse Bildkompositionen. Sorrentinos bis ins kleinste Detail perfekt kadrierte Einstellungen brauchen im Prinzip keine Dialoge, um von den Strukturen der katholischen Kirche zu erzählen. Indem er ganz auf Bilder setzt, die offener und mehrdeutiger sind als die meisten Dialoge, lotet er die visuellen Spielräume von Serien aus. »The Young Pope« ist ein grandioses Panorama bewegter Bilder, die einem immer wieder den Atem rauben und zugleich ein zynisches Lächeln provozieren. Wie Fellini steht auch Sorrentino in der Tradition der Karikaturisten und bildenden Künstler, die mit ihren Werken der Gesellschaft einen Zerrspiegel vorgehalten und so deren verdeckte Abgründe freigelegt haben.

Aber im Vergleich zur dritten »Twin Peaks«-Staffel und zu »Too Old to Die Young« wirkt selbst ein so radikales Serienkonzept wie das von »The Young Pope« noch vergleichsweise konventionell. David Lynch und Nicolas Winding Refn werfen so ziemlich alle Konventionen des seriellen Erzählens über Bord. Zwar greift Lynch mit der dritten Staffel von »Twin Peaks« 25 Jahre nach dem vermeintlichen Ende der Kultserie seine damaligen Ideen wieder auf. Aber die Perspektive hat sich in diesem Vierteljahrhundert deutlich geweitet. Die Fortsetzung speist sich mindestens so sehr aus den Filmen, die er seither gedreht hat, wie aus der ursprünglichen Serie.

Der Serien-Boom hat es Lynch dabei erlaubt, seinen ganz eigenen Weg noch radikaler zu gehen als in den frühen 90ern. Die siebzehn knapp einstündigen Folgen der neuen Staffel spiegeln seine bekannten Obsessionen wider. Wie in seinen Filmen treten auch hier ständig Doppelgänger auf, Figuren verlieren ihre Identität, und die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen mehr und mehr. Zugleich kann Lynch aber auch viel weiter ausholen und beispielweise einen Bogen zu den Atomwaffentests schlagen, die dem Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki vorausgegangen sind. Während die ersten Staffeln der Serie einen bitterbösen und zugleich liebevollen Blick auf das Amerika der Kleinstädte mit all seinen teils seltsamen Ritualen geworfen haben, erweist sich die dritte Staffel als surrealer Gegenentwurf zur US-amerikanischen Realität der vergangenen 75 Jahre. »Twin Peaks« spielt nun auch in Las Vegas und New York, New Mexico und South Dakota und erweist sich als Paralleluniversum. Die Explosion der Atombombe in der Wüste von New Mexico hat eine Pforte in eine andere Dimension geöffnet. Mit dieser Massenvernichtungswaffe ist etwas zerrissen. Der Geist, der damals durch diesen Riss seinen Weg in die Welt gefunden hat, vergiftet sie bis heute.

Nicolas Winding Refns »Too Old to Die Young« folgt zwei großen Erzählbögen, die zwar miteinander verknüpft sind, aber weitgehend parallel zueinander verlaufen. Im Zentrum des einen Bogens steht der von Miles Teller gespielte korrupte Polizist Martin Jones, der eine Affäre mit einer Minderjährigen hat und als Auftragsmörder für einen Gangster arbeitet. Der andere erzählt von Jesus (Augusto Aguilera), dem Neffen eines mexikanischen Kartellbosses, der in die Fußstapfen seiner von Jones und dessen Partner ermordeten Mutter tritt.

Wie Lynch vermischt auch Refn Anklänge an typische Serienkonventionen mit Absurdem und Surrealem. Und wie Lynch bricht er die fortlaufende Erzählung immer wieder auf, um seinen persönlichen Obsessionen freien Lauf zu lassen. Aber letztlich geht Refn noch weiter als sein Vorbild Lynch. In seinem Kosmos gibt es für das Publikum keinerlei Gewissheiten mehr. Am Ende der Staffel sind fast alle zentralen Figuren des Serie tot, und trotzdem hat man das Gefühl, dass die Geschichte gerade erst begonnen hat.

Durch Refns extrem langsamen Stil und seine Vorliebe dafür, viele Szenen bis an den Rand des Erträglichen zu dehnen, bekommt jede Einstellung ein enormes Gewicht. Die Details treten vor die Erzählung und versperren auch mal den Blick auf sie. Diese radikale Abkehr von den Konventionen des seriellen Erzählens nimmt einem nach und nach alle Sicherheiten. Der Wahnsinn von »Too Old to Die Young« erinnert daran, dass Serien tatsächlich eine ganz eigene Form von Kunst hervorbringen können, eine Kunst, die den Zuschauer irritiert und zugleich verzaubert, die dem Irrsinn der Welt gerecht werden kann und ihn doch nicht zähmt.

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