Juliette Binoche – Ein Porträt

Die Frau, die leuchtet
Juliette Binoche in »High Life« (2018). © Pandora Film Verleih

Juliette Binoche in »High Life« (2018). © Pandora Film Verleih

Sie ist eine Arthouse-­Ikone, ermuntert ihre ­Regisseure aber auch gern zur Leichtgkeit. Jetzt kommt Juliette Binoche mit zwei großartigen Filmen ins Kino

Im französischen Kino ist der Sprechakt die vorherrschende Form des Handelns. Es fährt in der Regel gut mit der Doppelbödigkeit des Wortes, das die Wahrheit offenbaren, aber auch verschleiern kann. »Zwischen den Zeilen« gibt sich anfangs als prächtiges Beispiel dieses Konversationskinos zu erkennen. Es bereitet dem Film sichtliches Vergnügen, seinen Darstellern beim Reden zuzusehen. Und hinter dem Gesagten verbirgt sich stets noch eine andere Botschaft.

Juliette Binoche lernen wir in Olivier Assayas' Komödie jedoch erst einmal ganz anders kennen: als tatkräftige Polizistin in einer waschechten Action-Szene. Ihre Heldin bewahrt in dramatischen Situationen einen kühlen Kopf. Aber auch Bilder können doppelbödig sein, denn bei dem Polizeieinsatz handelt es sich um den Ausschnitt aus einer TV-Serie, in der Selena – Binoche – mitspielt. Ihre Figur ist kein Flic, wie sie immer wieder betont, sondern eine Spezialistin für Krisensituationen. Die falsche Spur, die ihr erster Auftritt auslegt, ist in Wahrheit natürlich eine richtige, denn an Krisen mangelt es nicht in dieser Komödie der Duplizität, die hauptsächlich im Pariser Verlagsgeschäft spielt. Selenas Beruf wird in dieser hermetisch abgeschlossenen Welt zwar mit sachtem Spott betrachtet, allerdings verschafft er ihr eine gewisse Eigenständigkeit an der Seite des Verlegers Alain (Guillaume Canet), der damit zurechtkommen muss, dass es immer mehr Bücher und immer weniger Leser gibt.

»Zwischen den Zeilen« (2019). © Alamode Film

Auch der zweite Film, in dem Juliette Binoche in diesen Tagen zu sehen ist, handelt vom Schwinden der Ressourcen: In »High Life«, dem lang gehegten Science-Fiction-Projekt von Claire Denis, bricht die Besatzung eines Raumschiffs zu einem Schwarzen Loch auf, um seine Rotationskräfte für das Überleben der Menschheit nutzbar zu machen. Hier ist die Tatkraft der Schauspielerin nicht vorbehaltlich, denn dieser französischen Regisseurin war der Sprechakt nie filmische Attraktion genug. »High Life« ist lebhaftes, bizarres Körperkino, in dem Binoche die Bordärztin Dibs verkörpert, halb Mad Scientist und halb Schamanin, aber ganz der Aufgabe verschrieben, die Fortpflanzung der Besatzung – alle Delinquenten – zu gewährleisten. Furchtlos lässt sich Juliette Binoche auf die Abgründe dieser Figur ein, der eine dunkle Vergangenheit als Kinds- und Gattenmörderin anhaftet; sie zeichnet eine Doppelstudie von lädierter und zerstörerischer Weiblichkeit, die nicht zu fassen ist.

Diese Schauspielerin ist nicht ohne eine Aura von Geheimnis und Unberechenbarkeit zu haben. Wie keine andere versteht sie es, das Mysterium ihrer Charaktere zu wahren und dem Publikum dennoch einen Zugang zu ihnen zu gewähren. Sie legt sich ins Zeug für ihre Figuren, spielt sie als Frauen aus Fleisch und Blut, die willensstark sind und zugleich verletzbar. Sie ist keine Darstellerin, die sich von Ismen vereinnahmen lässt, sondern stets auf eigene Rechnung spielt. Die Isabelle in »Meine schöne innere Sonne«, dem letzten Film von Claire Denis, etwa taugt nicht so recht zur feministischen Ikone. Sie tut etwas, das sich für moderne Kinoheldinnen eigentlich nicht gehört: Sie weint oft. Enttäuschungen, Kränkungen und Blessuren pariert man heute in aller Regel streitbarer. Die Heldin von Denis' trotzig vergnüglicher Komödie jedoch ist nah am Wasser gebaut. Die Liebe spielt der Künstlerin um die Fünfzig übel mit. Also vergießt sie stille Tränen. Aber indem sie ihre Verwundbarkeit offenbart, steht sie zugleich selbstbewusst für ihre Gefühle ein.

»Meine schöne innere Sonne« (2017). © Pandora Film Verleih

Binoche bietet viele Facetten auf, ist in einem Moment resolut, im nächsten agil und im übernächsten wehmütig. Nicht von ungefähr heißt das dokumentarische Porträt, das ihre Schwester Marion Stalens über sie gedreht hat, »Juliette Binoche, die Wandelbare«. Sie kann den unterschiedlichsten Charakteren Gestalt verleihen. Was hat die großherzige Krankenschwester aus »Der englische Patient« von Anthony Minghella mit der reservierten Verlagslektorin aus Michael Hanekes »Caché« gemeinsam, was verbindet die gestresste Sozialarbeiterin aus Cédric Klapischs »So ist Paris« mit der unbeirrten Romantikerin aus Abbas Kiarostamis raffiniertem Spiegelkabinett »Die Liebesfälscher«? Werden sie tatsächlich von der selben Schauspielerin verkörpert?

Weit mehr als 35 Jahren steht sie schon vor der Kamera. Die kann sich nicht sattsehen an Binoches rätselhafter Vielseitigkeit. Ihren Durchbruch erlebte sie 1985 an der Seite von Jean-Louis Trintignant als Schauspielschülerin in André Téchinés »Rendezvous«. Aus dem französischen Kino ist sie seither nicht mehr wegzudenken. Regisseure wie Assayas, Leos Carax, Jean-Luc Godard, Patrice Leconte und Louis Malle haben sie in großen Rollen besetzt. Zwar liebt sie die Zusammenarbeit mit Filmemachern, die eine unverwechselbare Handschrift haben und die, wie Haneke oder Kiarostami, Widerhaken schlagen ins Fleisch der filmischen Konventionen. Aber sie navigiert unvoreingenommen durch alle Genres des französischen Kinos. An muntere Komödienrollen geht sie mit der gleichen Hingabe heran.

Gern unternimmt sie auch Abstecher ins internationale Autorenkino. 1986 trat sie zum ersten Mal in einem englischsprachigen Film auf, Philip Kaufmans Verfilmung von Milan Kunderas »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«. Diesen Strang ihrer Karriere führt sie seither konsequent fort. Sie hat mit dem Iren John Boorman gedreht, dem Kanadier David Cronenberg, dem Israeli Amos Gitai, dem Taiwanesen Hou Hsiao-hsien, dem Polen Krzystof Kieslowski und, gerade erst, den Japanern Naomi Kawase (»Die Blüte des Einklangs«) und Hirokazu Kore-eda. Steven Spielberg hingegen musste sie viermal einen Korb geben. Als er ihr eine Rolle in »Schindlers Liste« anbot, war sie gerade schwanger; Engagements in der »Jurassic Park«-Serie schlug sie mit den Worten aus: »Wenn er mir vorgeschlagen hätte, einen Dinosaurier zu spielen, hätte ich zugesagt.«

»Die Blüte des Einklangs« (2018). © Neue Visionen Filmverleih

In ihrer Karriere hat sie eigentlich sämtliche Etappenziele erreicht. Für »Drei Farben: Blau« ­erhielt sie einen César und den Darstellerpreis in Venedig; für »Der englische Patient« wurde sie mit dem Oscar als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet. Ihr Engagement für Filme, die ihr wichtig sind, ist legendär. Als Leos Carax bei »Die Liebenden vom Pont-Neuf« das Budget und den Drehplan um ein Vielfaches überzog (und sie zwang, diverse attraktive Rollenangebote abzulehnen), ersuchte sie sogar den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand um Unterstützung. Sie konnte ihn überzeugen, zugunsten des Films bei den verzweifelten Produzenten zu intervenieren. ­Mitterrands Angebot, seine Geliebte zu werden, lehnte sie höflich ab.

Mittlerweile gibt sie oft selbst den Anstoß zu einem Filmprojekt. »Camille Claudel 1915«, mit dem sie vor sechs Jahren auf der Berlinale vertreten war, entstand, weil sie seit ihrer Jugend von der Bildhauerin fasziniert war und unbedingt mit dem Regisseur Bruno Dumont arbeiten wollte. Er zeigt ihre Risikobereitschaft: Sie ließ sich auf die Herausforderung ein, mit Laiendarstellern zu arbeiten – die Insassen einer psychiatrischen Anstalt spielen bei Dumont gewissermaßen sich selbst –; das war ein Lernprozess mit offenem Ausgang, bei dem sie das Verhältnis von Nähe und Distanz bei jedem Take neu bestimmen musste. Sie will sich nicht schützen. Ihr Gesicht, schrieb Martina Knoben damals in der »Süddeutschen Zeitung«, gleiche einem Kriegsschauplatz.

Sie liebt es, als Schauspielerin eigene Gewohnheiten zu durchbrechen. Ihre Rollen sind Erfahrungen, an denen sie wachsen will. Sie ist auch insofern eine enthusiastische Komplizin ihrer Regisseure, als sie diese bei Registerwechseln begleitet und unterstützt: Binoche hat Assayas, Denis und Bruno Dumont animiert, erstmals Komödien zu drehen. Assayas, der mehrfach mit ihr gearbeitet hat, schätzt sie als einen brillanten Störenfried, dem es gelingt, die eigene, innere Freiheit auf die Mitspieler zu übertragen. Dabei bleibt sie aber eine unerbittliche Verteidigerin ihrer Figuren. Um ihnen gerecht zu werden, scheut sie die Konfrontation nicht. In Interviews sprach sie darüber, wie erbittert ihre Auseinandersetzungen mit Louis Malle und Krzystof Kieslowski zeitweilig waren. Claude Berri, der Patriarch des französischen Kinos, feuerte sie bei »Lucie Aubrac«, weil sie die Rolle der Résistance-Heldin partout anders anlegen wollte. »Ein Schauspieler soll nicht nur ein braver Soldat sein«, sagt sie in der Dokumentation ihrer Schwester, »sondern muss aufsässig sein können. Wer gehorsam ist, ist schnell aus dem Spiel«.

»High Life (2018). © Pandora Film Verleih

Längst befriedigt das Kino nicht mehr ihren unbedingten Drang, sich auszudrücken. Sie arbeitet als Malerin (am liebsten porträtiert sie ihre Figuren und Regisseure), kehrt gelegentlich ans Theater zurück und nahm im Alter von 44 Jahren das Abenteuer einer Tanzperformance mit dem Londoner Choreographen Akram Khan in Angriff. Wie sehr diese Eskapade ihre Leinwandpräsenz verändert, ist in Denis' »Meine schöne innere Sonne« zu sehen. Eine neue Eleganz hat sich in ihre Bewegungen eingeschlichen. Neugierig erkundet Denis die Anmut ihres Stars: Eingangs kreist die Kamera um ihr Gesicht und ihren Torso, dann sehen wir sie beim Sex mit einem unsensiblen Liebhaber. Später, bei einem anderen Liebesspiel, filmt Denis ihren Körper wie eine biegsame Skulptur. Dieses choreographische Ergründen einer Figur setzen Binoche und Denis in »High Life« fort. Barfuß, das Gewicht auf den Fußballen, schleicht Dibs durch die Gänge und Kabinen des Raumschiffs; ihr Besuch der Orgasmusmaschine ist purer Ausdruckstanz, bei dem sich ihr Körper so heftig bewegt, dass die Kamera ihn nur in Fragmenten fassen kann. Noch eine weitere außerfilmische Inspirationsquelle blitzt in »High Life« auf: Wenn Dibs ihr Haar löst, sieht Binoche fast so aus wie die Performancekünstlerin Marina Abramovic.

Das Spielen ist für sie eine wachsame Auseinandersetzung mit dem Leben. Sie ist zwar überaus diskret, verbittet sich in Interviews Fragen zu ihrem Privatleben. Aber die Grenzen zwischen Biografie und Arbeit können fließend sein. Nicht von ungefähr nahmen die großen Liebesgeschichten, von denen die Öffentlichkeit weiß, ihren Anfang auf Filmsets. Mit Leos Carax war sie liiert, auch mit ihren Leinwandpartnern Benoît Magimel und Olivier Martinez. Den Vater ihres ersten Kindes, den Tauchlehrer André Hallé, lernte sie während der Dreharbeiten zu »Drei Farben: Blau« kennen.

Längst spielen ihr Ruhm und ihre Legende in die Rollen hinein. In der TV-Serie »Call My Agent« tritt sie als »Juliette Binoche« auf. In Hirokazu Kore-edas »The Truth« ist ihr Rollenname mit ihrem Vornamen identisch, in einem koketten Dialog aus »Zwischen den Zeilen« wird Selena gefragt, ob sie nicht ihre Kollegin Juliette Binoche bitten könne, das Hörbuch eines Romans einzusprechen.

Was aber erfahren wir überhaupt aus ihren Rollen über sie? In Assayas' »Die Wolken von Sils Maria« könnte man auf die Idee kommen, diesmal erfülle Binoche die klassische, wenn auch vielleicht obsolete Anforderung an einen Filmstar: sich selbst zu spielen. Mit Recht darf man ihn als einen Film für und über sie betrachten. Sie verkörpert, überaus glaubwürdig, eine gefeierte Film- und Bühnenschauspielerin. Die Figur verrät eine intime Kenntnis ihrer Leinwandpersona und ihres Temperaments, das aus öffentlichen Auftritten und Interviews vertraut ist: ihre Ungezwungenheit; ihre Bereitschaft, zu gegebener Zeit glamourös zu sein und in anderen Momenten unauffällig zu erscheinen; ihre amüsierte Neugierde auf die Dinge des Lebens und den klugen Erlebnishunger, mit dem sie ihre Rollen in Angriff nimmt. Zu dieser Übereinstimmung trägt bei, dass Assayas auch einen Bogen zurück zu ihren gemeinsamen Anfängen schlägt, als Drehbuchautor respektive Hauptdarstellerin von Téchinés Rendezvous, in dem die junge Binoche ebenfalls eine Schauspielerin verkörperte. Nun hadert die von ihr gespielte Maria Enders mit dem Vergehen der Zeit: In dem Stück, in dem sie einst als junge Verführerin ihren Durchbruch erlebte, soll sie nun die andere, die ältere Hauptrolle übernehmen. Assayas zwingt das Publikum nicht zu glauben, dass sein Star mit ähnlichen Problemen konfrontiert wird. Ganz ausschließen müssen wir es wiederum auch nicht.

Die Kämpfe, die sie in diesem Film ausficht, sind vorrangig künstlerische: Sie ringt mit dem Text, muss sich die Rolle hart erarbeiten. Eine solche Hingabe trauen wir Binoche auch im Leben zu. Vielleicht trägt sie bei den Proben ebenso bequeme Alltagskleidung und ihre Haare so burschikos kurz. Der Kontrast zu ihrer Erscheinung im berückenden Chanel-Abendkleid bei einem Empfang zu Beginn des Films allerdings ist groß. Dieses Schillern trifft den Kern der Identität eines Filmstars. Sie ist ja stets zweideutig. In seiner Persona destilliert sich das Allgemeine, Gewöhnliche, ohne dass dabei die Aura des Unverwechselbaren verlorengeht: Der Star soll er selbst sein und gleichzeitig die vielen Charaktere, die er spielt. Er darf nicht in der Rolle verschwinden, vielmehr muss seine Persönlichkeit hindurchscheinen.

»Zwischen den Zeilen« (2019). © Alamode Film

In dem Bogen, den »Die Wolken von Sils Maria« zurück in die Biografien von Figur und Darstellerin schlägt, wird auch deutlich, wie sehr Binoches Starpräsenz gewachsen ist. Ihr Leuchten hat sich verstärkt, es ist gesättigt von Erfahrung und Neugier. Nun besitzt es eine blendende Intensität, eine reizvolle, spannende Lebendigkeit. Sie besitzt die Gabe, einen Moment zu erleben, um einer fiktiven Figur ihre Wahrheit zu geben. Der Zuschauer darf glauben, sie würde spontan agieren. Aber Binoche ist eine überlegt impulsive Darstellerin. Sie kennt die back story ihrer Figuren und lässt zu, dass die einzelnen Rollen aufeinanderantworten.

Auch in »Zwischen den Zeilen« verkörpert sie eine Schauspielerin, die es zurück zum Theater drängt. Selena hat genug davon, als TV-Star von Passanten erkannt zu werden. Die Intimität, die eine Großaufnahme ihres Gesichts herstellt, geniert sie. Sie sucht den Abstand, der zwischen Bühne und Publikum liegt. Noch eine zweite, gestohlene Intimität geniert sie: Sie taucht, kaum verschleiert, in den anmaßend autobiografischen Romanen ihres gelegentlichen Liebhabers Léonard (Vincent Macaigne) auf. »Mach kein Buch daraus«, fordert sie ihn auf, als sie ihm den Laufpass gibt, »das verzeihe ich dir nie!« Ihr Leben soll kein Stoff der Auto-Fiktion sein, an der Léonard und der Verlag ihres Mannes Alain gut verdienen. Darauf beharrt auch der Originaltitel von Assayas' Film, »Doubles vies«. Er benennt mehr als nur die Duplizität, die in den Liebschaften dieser Komödie der Verunsicherung herrscht. Zugleich beschreibt er den Beruf, den Selena und ihre Darstellerin ausüben. Er ist kein Tauschgeschäft zwischen Leben und Kunst. Vielmehr beruht er auch auf Beobachtungsgabe und Vorstellungskraft. Die Übereinstimmung zwischen Privatperson und Rolle darf in den Augen der Zuschauer existieren, aber sie ist nur eine der vielen Masken, die Juliette Binoche trägt.

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