Hülle und Fülle in Serie

Ein aktueller Blick auf die Sparte der Webserien
"The Power Inside"

Harvey Keitel in "The Power Inside"

Jahr für Jahr wird der endgültige Durchbruch der Webserien vorhergesagt, doch noch ­immer ist das Angebot so unübersichtlich, dass man nie weiß, welche Titel sich denn tatsächlich lohnen. Barbara Schweizerhof hat sich umgeschaut

Am Anfang steht die Überwältigung. Wer zum Beispiel, vielleicht neugierig geworden durch die Meldung, US-Präsident Obama sei jüngst in einer »Webserie« aufgetreten (Video), einfach mal nachschauen wollte, was es damit auf sich hat, landet sofort mittendrin. Between Two Ferns heißt die Talkshow im Web­serienformat, der Obama einen Besuch abstattete, um beim jungen Internetpublikum für seine Gesundheitsreform zu werben. Der »Host« der Show – deren Name »Zwischen zwei Farnen« sich auf die Mindestausstattung von billig produzierten TV-Talkshows bezieht – ist Comedian Zach Galifianakis, dessen Talent für grotesken Fremdschämhumor zum Erfolg der Hangover-Filme beigetragen hat. Im reichen Raum der Massenkultur kann man sich kaum einen Ort vorstellen, zu dem die seriöse Aura eines Präsidenten in größerem Kontrast steht. Mit anderen Worten: Das Interview, das Galifianakis hier mit Obama zu führen vorgibt, besticht allein schon durch seine große humoristische Fallhöhe.

Zu finden ist Between Two Ferns auf funnyordie.com, einer Webserien-Seite, die die mangelnde Respektabilität des Genres geradezu plakativ vor sich herträgt. Man kann dort nicht nur die allesamt schrägen Interviews entdecken, die Galifianakis bislang mit Gästen wie Bruce Willis, Justin Bieber, Sean Penn oder James Franco führte, sondern eine Fülle von weiteren Clips und Webserien mit oft derbem Witz – und überraschend prominenter Besetzung. In Gay of Thrones etwa besprechen ein Friseur und seine Kundin die aktuelle Game of Thrones-Folge, in Drunk History erzählen Betrunkene historische Ereignisse nach (die dann mit veritablen Stars wie Jack Black und Michael Cera »reenacted« werden), in Billy on the Street wird das bewährte Spontan-Straßeninterview neu belebt, wenn Comedian Billy Eichner mit Gästen wie Zachary Quinto, Paul Rudd oder Neil Patrick Harris durch New York rennt und Passanten mehr anrempelt als anspricht. Über die meisten der zwei bis zehn Minuten langen Clips kann der Zuschauer abstimmen: »funny« oder »die«. Die ganze Seite funktioniert auch als eine Art Testscreening: Den erfolgreichsten Shows winkt die Übernahme als »reguläre« Serie beim Sender Comedy Central.

Das Genre Webserie, so wie es sich auf funnyordie.com präsentiert, kann seine Herkunft aus dem Milieu der »Geeks« und »Freaks«, der Computer-, Fantasy- und Fernseh-Nerds nicht leugnen. Der übergroße Teil der Webserien, die man auch auf vimeo.com, auf diversen Youtube-Kanälen oder Spezialportalen wie webserieschannel.com findet, ist denn auch parodistisch inspiriert. Das bedeutet: Es gibt wenig Originalstoffe, fast immer wird Bezug genommen auf die »alten« Welten des Kinos und des Fernsehens. Oder auch der Literatur: Neben den Fanthemen wie Star Wars, endlosen Superheldengeschichten, einer Fülle an Zombie- und Science-Fiction-Motiven sowie natürlich jeder Form des »Reality-TV« findet sich ab und an auch eine Serie wie Emma Approved, in der Jane Austin aufs Webserienformat heruntergebrochen wird. Durchweg staunt man darüber, wie viel Prominenz sich in den oft gar nicht so billig produzierten Werken findet. In dem von Intel und Toshiba gesponserten The Power Inside etwa kämpft kein geringerer als Harvey Keitel Rasierklingen schwingend gegen eine Invasion von bedrohlichen Schnurrbärten aus dem All.

So vergnüglich sich das zunächst anhört, tritt doch nach mehreren Tagen des Surfens und Ausprobierens ein Grundproblem des Genres zu Tage: Im rastlosen Internet muss eine Webserie noch schneller die Aufmerksamkeit fesseln als einst die Fernsehsender, die die Menschen vom Zappen abhalten wollten. Sehr vielen Web­serien eignet deshalb etwas Nerviges, Grelles, Überdeutliches, dessen man schnell müde werden kann. Anders als »richtige« Serien lassen sich nur wenige im »Binge-watch«-Modus, also in kompletten Staffeln genießen.

Zu den wenigen, die auf diese Weise süchtig machen, gehört etwa Broad City. Die von 2009 bis 2011 produzierte Webserie zeigt zwei junge Frauen in New York, beide mit allzu großem Hang zum Kiffen, und ihr chaotisches Leben. Als Geistesverwandte von Lena Dunhams HBO-Serie Girls kommt Broad City trotz Slapstickhumor und grotesken Überzeichnungen authentisch, uneitel und durch keine Sendervorgaben glattgebügelt daher. Mittlerweile als »reguläre« Serie von Comedy Central übernommen, kann man gespannt sein, ob das so bleibt.

Wem auch Broad City noch zu grell ist, der kommt vielleicht bei High Maintenance auf den Geschmack, einer der großen Web­serien-Entdeckungen des letzten Jahres. Das Projekt des Ehepaars Ben Sinclair und Katja Blichfeld, er Schauspieler, sie Casting-Agentin, verdankt seine Entstehung unter anderem dem Überfluss an arbeitslosen Schauspielern in New York. In High Maintenance stehen Figuren und ihre Entwicklungen im Vordergrund und schon das lässt die Serie herausragen. Dementsprechend braucht es etwas Zeit, um hineinzukommen in den Fluss des Erzählens. Die Serie ist nicht darauf angelegt, zwei Millionen Klicks in zwei Tagen zu erzeugen.

Den roten Faden bildet ein Marihuana-Dealer (von Mitproduzent Ben Sinclair gespielt), der namenlos bleibt. Sein Job ist ein dramaturgischer Kniff: Er führt ihn in die verschiedensten Milieus von New York und so ergibt jede Folge eine soziologische Miniatur mit eigener Stimmung, mal komödiantisch (ein Caterer bietet einer jüdischen Familie ein biologisch-organisches Pessacherlebnis, hat aber keine Ahnung vom Schweinefleischverbot), mal melancholisch (ein junger Mann entdeckt, dass seine neue Bekanntschaft aus dem Internet ihre Obdachlosigkeit verheimlicht). Es sind mit Liebe zum Detail und zu zwiespältigen Charakteren gezeichnete Porträts, die bleibenden Eindruck hinterlassen. Dass Sinclair und Blichfeld inzwischen einen »richtigen« Serienvertrag unterschrieben haben, erscheint logisch.

Dass der Ton der Webserien eben auch ernst und erwachsen sein kann, davon kann man sich auch bei One For Ten überzeugen, einer Dokumentarserie. Die jungen britischen Regisseure Mark Pizzey und Will Francome haben sie als Social-Media-Projekt entworfen. 2013 fuhren sie durch die USA, um zehn Menschen zu interviewen, die unschuldig zum Tode verurteilt worden waren. Mit schnellem Schnitt, Twitter- und Facebook-Einbindung sollte eine maximale Öffentlichkeit geschaffen werden. Wie auch immer man den Erfolg der interaktiven Elemente einschätzt, die entstandenen drei bis sechs Minuten langen Filme sind kleine Meisterwerke der effektvollen Kurzdokumentation.

Jede Folge hat den gleichen Aufbau: Eine prominente Stimme (unter anderem beteiligten sich Danny Glover, Jeremy Irons, Lily Tomlin) fasst in wenigen Sätzen den Fall zusammen: das Verbrechen, die Verwicklung des Betroffenen, den Hergang des Prozesses und wie lang es dauerte, bis das Todesurteil revidiert wurde. Einer der Interviewten etwa hat ganze 18 Jahre in der death row verbracht. Die Fakten aber bilden jeweils nur das Intro. Danach kommen die Justizopfer selbst zu Wort. Während man sie bei alltäglichen Verrichtungen sieht, hört man sie erzählen, davon, wie es ihnen damals erging und wie es heute um sie steht.

Es ist der letztere Teil, der den größten Eindruck hinterlässt. Wo die einzelnen Fälle immer aufs Neue damit erschüttern, wie schnell in den USA ein Todesurteil gegen Unschuldige verhängt werden kann, geben die fein gearbeiteten Miniporträts der Betroffenen Einblick in das menschliche Drama hinter den Justizirrtümern. Jeder der zehn geht anders mit seiner Geschichte um, aber gemeinsam ist ihnen eine betroffen machende Fragilität. Sie haben alle auf unwiderrufliche Weise den Boden unter den Füßen verloren, und so gut sie doch auch als Freie wieder zurechtkommen, betonen alle, dass die Dinge nie mehr gut werden. One for Ten ist ein Plädoyer gegen die Todesstrafe – und das gesamte amerikanische Justizsystem.

Da das Nebeneinander von Unvereinbarem nun mal zum Internet und zur Webserie gehört, sei als Erholung die Jerry-Seinfeld-Serie Comedians in Cars Getting Coffee empfohlen. Schließlich war Seinfeld schon zu Zeiten seiner gleichnamigen Sitcom der Meister der Anti-Intensität, eines entspannten Humors, der vorgeblich »von nichts« und von Nichtigkeiten handelte. Dieser unbedingten Lockerheit bleibt Seinfeld auch in seinem Onlineprojekt treu, mit dem er seit zwei Jahren zur wachsenden Popularität des Genres Webserie beiträgt.

Comedians in Cars Getting Coffee hält sich genau an das, was der Titel verspricht: Seinfeld geht mit ausgesuchten Komiker­kollegen Kaffee trinken. Zu Beginn der Folge stellt Seinfeld nicht etwa seinen Gast, sondern den Oldtimer vor, mit dem er seinen Gast abholen wird. Dann fahren sie zusammen Auto, sitzen über dem Heißgetränk, essen vielleicht auch etwas und unterhalten sich über das Heute, über die Branche und ihre Karrieren.

Seinfeld führt die Gespräche betont ziellos und unvorbereitet. Im Zusammenschnitt ergibt das beiläufige Geplänkel nicht immer etwas Eindrucksvolles. Manche Komiker eignen sich weniger, manche mehr dafür, beim bloßen Plaudern gefilmt zu werden. In mindestens zwei Folgen aber gelingt Seinfeld mit seinem Format etwas Einmaliges: In einer Folge trifft er seinen alten Seinfeld-Kollegen Michael Richards (Video), der vor wenigen Jahren den Comedian-Beruf ganz aufgegeben hat, nachdem er wegen eines rassistischen Ausfalls gegen einen Zuschauer in die Schlagzeilen geraten war. Für ihn hat Seinfeld einen besonderen Oldtimer ausgesucht: einen rostigen VW-Bus mit Pritsche. Richards weiß es mit Humor zu nehmen. Sie reden über dies und das, erleben ein paar lustige Dinge auf der Straße und mit jeder Gesprächsminute merkt man, was für ein großartiger Komiker dem Betrieb mit Richards verloren gegangen ist. Seinfeld lässt ihm Zeit, sich zu erklären – und verabschiedet sich mit den Worten, Richards besäße ein großartiges Instrument und solle es doch weiter benutzen. Die Folge ist eine berührende Viertelstunde über das Showbusiness und die Melancholie von Karrieren, die ihren Zenit überschritten haben.

Ähnlich amüsant und rührend zugleich ist auch die Folge, in der Seinfeld auf Carl Reiner und Mel Brooks trifft (Video). Was als Frühstück mit dem 90-jährigen (die Folge wurde 2012 aufgezeichnet) Reiner beginnt, endet beim Abendessen in dessen Haus, bei dem der 86-jährige Brooks dazustößt. Die beiden rüstigen Komikergrößen sind seit 62 Jahren miteinander befreundet und verbringen als Witwer nun ihre Abende gemeinsam mit der Quizsendung »Jeopardy« und dem Sichten von Filmen auf DVD. Es ist eine Begegnung, die vor TV- und Filmgeschichte förmlich vibriert. Seinfeld gesteht seine Verehrung für die Herren seit Kindheitstagen, die Alten plaudern aus dem Nähkästchen, besonders Mel Brooks läuft zu großer Form auf. Zum Abschied liegen sich alle in den Armen. So einfallsreich, sprunghaft und spontan Mel Brooks agiert, würde man ihm zutrauen, dass er morgen seine eigene Web­serie beginnt. Im Grunde geht eine Seite wie »Funny or die« sowieso auf seine Ideen zurück.

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