Edward Berger: Bloß kein Stillstand

Ich bewege mich gern auf dünnem Eis
»Edward Berger«

»Edward Berger«

Er liebt das Risiko. Und seit dem mitreißenden Jugend­drama »Jack« läuft es für den Regisseur und Autor ­Edward Berger sehr gut. Er ist international gefragt, arbeitet fürs Kino und dreht hoch­klassige Fernsehserien. Jetzt startet sein neuer Film »All My Loving«, eine Familiengeschichte

Edward Berger, Jahrgang 1970, ist eine ungewöhnliche Erscheinung in der deutschen Film- und Serienlandschaft. Was vermutlich auch damit zu tun hat, dass er seine Ausbildung in Amerika an der Tisch School of the Arts in New York absolviert hat und als Assistent bei der amerikanischen Produktionsfirma Good ­Machine. Um seine junge Familie zu ernähren, arbeitete er nach den ersten Filmen »Gomez« und »Frau2 sucht Happy End« gut zehn Jahre lang als Autor und Regisseur fürs deutsche Krimi-Fernsehen. Der Spielfilm »Jack«, über einen zehnjährigen Jungen, der auf der Suche nach seiner jungen Mutter mit seinem kleinen Bruder durch Berlin streift, ist 2014 nicht nur sein Befreiungsschlag, sondern auch der Türöffner zum internationalen Erzählen, ­ zunächst in Serien wie »Deutschland 83«, »Patrick Melrose« und »The Terror«, demnächst als Regisseur des Mystery-Thrillers »Rio« mit Jake Gyllenhal, Benedict Cumberbatch und Michelle ­Williams. Kürzlich hat er den Vertrag für die Verfilmung des VW-Skandals unterzeichnet, eine Produktion von Leonardo DiCaprio, basierend auf Jack Ewings Buch »Faster Higher Farther«. Außerdem unterrichtet Berger den Nachwuchs, mit Vorlesungen und Workshops an der New Yorker Columbia University, an der UDK Berlin und der HFF Potsdam.

Wie findet ein Junge aus einer Wolfsburger Ingenieursfamilie zum Kino?

Das war zunächst die »Lupe«, ein Programmkino in Braunschweig, unserer nächstgrößeren Stadt, das leider inzwischen geschlossen ist. Da sind wir als Familie häufiger hingefahren und haben Charlie Chaplin-Filme gesehen, die ich herrlich komisch, gleichzeitig aber auch melancholisch fand. Später habe ich dort Filme wie »Blue Velvet« oder »Taxi Driver« entdeckt. Ein entscheidendes Erlebnis kam aber, als ich nach dem Schulabschluss einige Monate in Paris lebte und T-Shirts auf Rockkonzerten verkaufte. Ich wohnte über einem Kino. Da habe ich »Apocalypse Now« gesehen, bestimmt acht Mal, und das war für mich der magischste Film. Was ich an Apocalypse Now liebe, ist, dass er das Wesen des Krieges, des Chaos, der Dunkelheit und die Abgründe des Menschen erforscht, ohne sich an einer konkreten Handlung entlangzuhangeln. Es hat mich fasziniert, wie mich der Film einfing und in ein Gefühl entführte, eine andere Zeitrechnung. Genau das liebe ich, wenn ich in einen Film gehe, womöglich gehetzt ankomme, noch alle möglichen Dinge des Alltags im Kopf: Ich setze mich, und es zieht mich anderswo hin.

Was die meisten Ihrer unterschiedlichen Projekte verbindet, ist, dass sie auf unterschiedliche Weise das Wesen der Familie ­erforschen, oder?

Zumindest interessiert mich das, denn die Familie ist der Spiegel der Gesellschaft, ein Mikrokosmos, in dem sich eine größere Absicht auch in kleinen Geschichten verstecken lässt. Häufig geht es mir um den Einzelnen darin. Auf der Berlinale wurde ich kalt erwischt von der Frage, warum ich mich in »All My Loving« dafür entschieden habe, die drei Geschichten einzeln zu verfolgen. Mir fiel auf, dass es bei mir immer um einen einzelnen Menschen in der Gesellschaft geht, der häufig auch allein ist – ich denke, im Grunde ist letztlich jeder einsam, jeder muss sich seinen eigenen Weg suchen oder erkämpfen.

Im Schnitt haben Sie aber versucht, die Geschichten zu verschränken, oder?

Natürlich wird so eine Struktur immer wieder hinterfragt. Beim Drehbuchschreiben, bei jeder Förderung. Aber dagegen hatte ich mich immer gesträubt. Als im Grunde alles fertig war, habe ich es dann doch noch einmal versucht, und wir haben einen Tag damit verbracht, die Szenen ineinander zu verschachteln. Bei dem Experiment wurde mir sehr schnell klar, dass der Film dadurch seine Konzentration verliert und man eben nicht in eine andere Zeitrechnung entführt wird. Man sieht fünf Minuten Lars Eidinger, und fängt an, sich für ihn zu interessieren. Dann kommt plötzlich Nele Mueller-Stöfen und reißt uns aus seiner Geschichte heraus. Wir wollten ganz konzentriert auf den einzelnen Menschen schauen und dem Zuschauer keine Fluchtmöglichkeit lassen. Mit dem Hin- und Herspringen wurde es automatisch konventioneller und für mich dadurch auch langweiliger.

Wie persönlich sind denn diese Familiengeschichten?

Persönlich sind sie alle, weil sie immer etwas mit meinem jeweiligen Entwicklungsstand zu tun haben. Wirklich wichtig aber ist mir: Worum geht es in der Geschichte eigentlich? Bei Jack war ich in einer Phase, in der ich das Gefühl hatte, mich im Fernsehen zu verlieren. Ich wollte zurück zu den Anfängen: Warum ich mal Filme machen wollte. Dann habe ich diesen Jungen auf der Straße gesehen, der so voller Kraft durchs Leben ging, während ich selbst mit meinem Drehbuch nicht weiterkam. Kinder haben das ja oft, während wir völlig gelähmt sind von den Umständen des Alltags – die Ehefrau läuft weg, die Eltern werden krank, man verliert den Job, was auch immer. All diese Hürden, die uns in den Weg gestellt werden, führen dazu, dass wir das Selbstvertrauen verlieren. Mit dem Film sagte ich mir und den Zuschauern: Schaut euch diesen Jungen an, der viel mehr Grund hat, das Vertrauen zu verlieren – er schafft es auch.

»All My Loving« wiederum hat unbewusst viel mit dem Alter zu tun, mit dem Fortschreiten im Leben, der Endlichkeit. Alle Figuren merken, dass es nicht mehr so ist wie mit 30, wo man Entscheidungen noch aufschieben kann. Mit 40 oder 45 spürt man, dass alles Konsequenzen hat, die Eltern werden langsam älter, demnächst wird man selbst zur ältesten Generation gehören. Alle müssen etwas ändern, um nicht in ihrem Leben gefangen zu bleiben.

Sie haben gesagt, Jack wäre für Sie eine Rückkehr zu den Anfängen: Warum wollten Sie denn ­ursprünglich Filme machen?

Ich hatte einen starken Drang, Geschichten zu erzählen, die in mir stecken, und sie mit einer Handvoll Menschen umzusetzen. Ich wollte mich eben nicht davon leiten lassen, was von außen gewünscht, vom Markt verlangt wird. Bei den Fernseharbeiten zwischendurch habe ich immer versucht, trotzdem noch etwas Persönliches zu erzählen, häufig wird das jedoch von der Formatierung erdrückt. Bei »Jack« musste ich dringend wieder zu mir zurück.

Wie kam es dazu, dass Sie Ihre Drehbücher inzwischen mit einer Schauspielerin, Ihrer Lebenspartnerin Nele Mueller-Stöfen, und Ihrem Kameramann Jens Harant zusammen schreiben, die Geschichte sozusagen von Anfang an aus drei verschiedenen Perspektiven angehen?

Ursprünglich habe ich allein geschrieben. Dann habe ich festgestellt, das dauert viel zu lange, weil man sich auch oft verrennt oder steckenbleibt. Irgendwann habe ich meiner Frau die Drehbücher zum Lesen gegeben. Und die hatte immer so klare Argumente, dass ich dachte: Hätte sie das gleich gesagt, hätte es mir zwei Monate erspart. Darum haben wir angefangen, zusammen zu schreiben. Jens Harant ist jemand, der die Drehbuchfassungen immer begleitet und kommentiert, und wenn der Dreh näherrückt, setzen wir uns zur Vorbereitung zusammen. Dabei bringt er viele existenzielle Ideen ein, die auch dazu führen, dass wir völlig neue Wendungen aufnehmen. So haben wir schließlich gesagt, er ist unser Koautor.

Nach einem Jahr als Gasthörer an der Braunschweiger Filmschule sind Sie zum Filmstudium nach New York gegangen: Was hat Sie nach Amerika getrieben?

Gute Frage. Ich hatte eine Tante in NY, die ich häufig besucht habe, als ich mit 16 als Austauschschüler in Maryland war. An der Braunschweiger Uni fehlte mir die Praxis, außerdem war das ein eher künstlerischer Studiengang, es ging vor allem um Experimentalfilm. Aber ich wollte wirklich Geschichten erzählen. Von den Schulen in München oder Berlin erfuhr ich erst, als die Fristen vorbei waren. Durch eine Bekannte kam ich an ein Praktikum bei der Firma Good Machine in NY, die Independent-Filme produzierte. So bin ich da reingerutscht, was ein richtiges Abenteuer war.

Da waren Sie unter anderem ­Assistent bei Filmen von Ang Lee und Todd Haynes: Was haben Sie von den beiden gelernt?

Im Grunde war ich nur ein kleines Rädchen in der Maschine und konnte ihnen höchstens über die Schulter schauen. Gelernt habe ich vor allem von Produzenten wie James Shamus und Ted Hope. Beeindruckt hat mich diese entschiedene Suche nach etwas Außergewöhnlichem – man gab sich nie zufrieden, versuchte immer, mit dem nächsten Film den nächsten Schritt zu gehen. Das ist eine unheimlich schöne, und wie ich finde, auch sehr amerikanische Eigenschaft: versuchen, immer besser zu werden und sich nie zurückzulehnen. Ang Lee habe ich vor allem abgeschaut, wie er seinen Stil subtil auf die Filme zugeschnitten hat, sich von der Geschichte leiten ließ und sich dabei selbst nicht so wichtig nahm. Er diente dem Film.

Sie haben dann jahrelang deutsches Fernsehen gemacht, renommierte Krimiserien wie Tatort, Schimanski, KDD und Polizeiruf. Inzwischen drehen Sie hochkarätige internationale Serien, wie »Patrick Melrose« mit Benedict Cumberbatch und die Ridley-Scott-Produktion »The Terror«. Warum hinkt Deutschland im Seriengeschäft so hinterher?

Wir sind viel zu spät eingestiegen; inzwischen ist der Höhepunkt ja auch schon überschritten. In einem Bereich der erste zu sein, wenigstens in Europa, das haben wir verpasst, weil unser System unheimlich schwerfällig und selbstzufrieden ist. Weil es uns reicht, wenn etwas in Deutschland funktioniert, da der deutschsprachige Markt groß genug ist. Wenn neun Millionen Leute zuschauen, dann sind alle zufrieden, und niemand begreift, dass das im Rest der Welt keinen Menschen interessiert, sogar belächelt wird. In Dänemark, Holland, England wird automatisch internationaler gedacht. Die skandinavischen Länder sind so klein, dass eine Serie nur profitabel sein kann, wenn sie über die Landesgrenzen hinaus interessant ist.

Wobei das Sprachargument auf die Engländer ja nicht zutrifft . . .

Günter Rohrbach hat mal einen interessanten Artikel in der »Süddeutschen« veröffentlicht, über die deutschen Erzähler: dass alles, was hier als große Literatur wahrgenommen wird, so wie Günter Grass, immer auch einen intellektuellen Überbau hat. Da geht es nicht in erster Linie darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern immer um ein großes Thema, was die Werke häufig schwer konsumierbar macht. Im Vergleich dazu würde ein Amerikaner wie Jonathan Franzen, würde er denn auf Deutsch schreiben, bei uns fast als trivial gelten, weil er viel zu erzählerisch ist. Die Angelsachsen kommen aus einer anderen Tradition des Geschichtenerzählens, sie können Geschichten sehr gut und klar für ein Publikum schreiben. Und die englische Sprache führt dazu, dass sie überall auf der Welt gelesen und gesehen werden.

Ihr erstes großes Serienprojekt war »Deutschland 83«, entwickelt von einem deutsch-amerikanischen Autorenteam, was ja auch Ihre eigene, amerikanisch-deutsche Sozialisation spiegelt, oder?

Ja, als ich eine frühe Drehbuchfassung des Pilotfilms gelesen habe, dachte ich sofort, irgendwas ist hier anders. Eigentlich wollte ich nicht zum Fernsehen zurück, und dann auch noch zu RTL, das klang erst mal nicht so verlockend. Aber das Skript las sich internationaler im Vergleich mit den halb entwickelten Stoffen, die mir vorher angeboten wurden. Da dachte ich zum ersten Mal, das könnte auch Menschen im Ausland interessieren. Sicher auch, weil es nicht hundertprozentig realistisch war. Es fühlte sich fast ein bisschen an wie »Über den Dächern von Nizza«, ein guter Thriller, bei dem nicht alles so ernstgenommen wird. »Deutschland 83« spielte nicht hier auf dem Tisch, sondern ein bisschen darüber. Und international hat es sogar besser funktioniert als hier.

Für deutsche und europäische Regisseure wurde der Traum von Hollywood oft zum Alptraum, Sie dagegen sprechen von der großen Freiheit: Haben Sie da gar keine Bedenken?

Die Freiheit in Amerika besteht für mich darin, dass die Menschen sich dort wirklich für Filme interessieren, sie wollen besondere Filme, die neu und anders sind. Das findet zwar nicht bei den großen Studios statt, aber der Independent-Film der 90er Jahre hat seine Spuren hinterlassen. Alle, die damals bei Good Machine gearbeitet haben, gehören jetzt zu den wichtigen Playern; Ted Hope ist bei Amazon, Glen Basner macht Film Nation. Und die haben ihren Geschmack nicht geändert. Sie sind viel mehr auf die Filmemacher konzentriert, als das in Deutschland denkbar ist. Als ich »Jack« gemacht habe, hat sich in der hiesigen Branche kaum jemand dafür interessiert. Der erste Anruf kam von Film Four. Ich dachte, wie großartig, die machen die Filme von ­Yorgos Lanthimos und Steve McQueen; sie waren wahnsinnig schlau und sehr interessiert. Sie fahren auf zehn Festivals, nach Sundance, Cannes, Toronto, Berlin, Venedig, schauen sich Filme an und treffen Filmemacher, egal, wo die herkommen, und sagen, wenn du eine Idee hast, du stehst bei uns auf der Liste. Film Four gehört zu Channel Four, ist also eine Sparte des »britischen ZDF«, aber mit eigenem Budget, das sie nur für Kino ausgeben. Und am Ende der Reise kommt halt ein »Twelve Years a Slave« oder »The Favourite« dabei heraus. So etwas gibt es in Deutschland nicht, da fährt man vielleicht mal nach Cannes, um die deutschen Produzenten zu treffen, aber nicht, um sich einen griechischen Film anzuschauen. Nach »Jack« war ich in der Villa Aurora, alle haben sich den Film angeschaut, alle waren interessiert, wollten mich treffen: Wer macht so einen Film? Wie kam er zustande? Worauf hast du Lust? Und dieses positive, energetisierende Echo hat natürlich eine Wirkung, so dass man gleich etwas Neues schreibt. Hinzu kommt, dass die angelsächsischen Drehbücher, die ich zu lesen bekomme, einfach gut sind.

Nun hat Hollywood ja schon immer Talente aus der ganzen Welt geholt, dann aber ins eigene System gezwungen und damit oft auch zerstört. Ist das jetzt wirklich anders?

Ich mache mir keine Illusionen und spreche auch nur von dem Moment. Aber Steve McQueen, Yorgos Lanthimos, Sebastián Lelio, Pablo Larraín machen immer noch tolle Filme, auch in Hollywood. Bisher habe ich ein sehr positives Erlebnis, für mich ist es eine Aufbruchstimmung. Aber natürlich kann alles auch ganz schnell wieder vorbei sein. Deshalb schreibe ich ja auch meine eigenen Bücher, die ich weiterhin in Deutschland mache.

Wie lang kann es in Ihren Augen mit dem Netflix-Boom noch gut gehen?

Ich kann das Geschäftsmodell nicht durchschauen, aber ich denke, wir haben momentan eine Blase, die auch wieder platzen wird. Im Moment versuchen alle, mit Netflix mitzuhalten. Irgendwann haben wir wie früher beim Fernsehprogramm zehn verschiedene Streamingdienste, die alle bezahlt werden müssen. Und Netflix wird dann von Apple geschluckt. Es ist ja schon lange so, dass sich nur die ganz großen Blockbuster, Marvel-­Comic-Verfilmungen oder Filme von Christopher Nolan, noch als Event platzieren, für das die Leute ins Kino gehen. Allerdings hätte Alfonso Cuarón einen Film wie Roma, spanischsprachig und in Schwarz-Weiß, nirgendwo sonst machen können: Netflix hat es ihm ermöglicht, und der Film wird weltweit wahrgenommen. Das lässt doch hoffen.  

Derzeit bietet Netflix enorme Chancen und Freiheiten, aber was, wenn genau diese Filme irgendwann nicht mehr produziert werden?

Dann wird es einen neuen Specialty-Player geben, denn es gibt ein Publikum für diese Filme, und es gibt Menschen, die diese Geschichten erzählen wollen.

»Patrick Melrose« und »The Terror«: Wie kommt es, dass ein deutscher Regisseur plötzlich zum Fachmann für britische Themen wird?

Es liegt am Mut der Menschen, die mir dabei vertraut haben. Die Autoren von »The Terror« waren große Fans von »Jack«. Ich fand ihre Geschichte großartig, hatte aber keine Ahnung, wie ich etwas in dieser Größe umsetzen sollte; darauf haben sie gesagt, na, wir doch auch nicht, wir haben das auch noch nie gemacht. Ich konnte ihnen glaubhaft erzählen, warum und wie ich diese Geschichte machen will und darauf läuft es doch immer hinaus: Man muss eine Agenda haben und Leidenschaft, um etwas nicht nur als Job herunterzureißen.

120 Männer auf einem Schiff, im Eis der Arktis, Mitte des 19. Jahrhunderts: Was genau hat Sie daran interessiert?

Ich fand großartig, wie die Entdecker mit der Hybris des Westens aufbrechen und mit unserer Arroganz, unserer angeblichen Überlegenheit gegenüber den Inuit, davon ausgehen: Das gehört jetzt uns. Bei den Engländern ist natürlich alles noch ein bisschen extremer, mit dieser unheimlich kontrollierten viktorianischen Art, wo alles streng reglementiert ist, die Seeleute unten im Loch und die Offiziere in ihren Kabinen . . . selbst auf dem Meer essen sie von feinem Porzellan. Und dann gerät alles komplett aus den Fugen. Alle Manieren und Umgangsformen werden nichtig und wir essen uns gegenseitig auf. Am Ende sitzt ein Mann alleine am Eisloch, angelt Fische und will nicht mehr dahin zurück, wo er herkam. Eine tolle Geschichte!

Warum haben Sie nur drei Folgen inszeniert?

Das ist wirklich extrem viel Arbeit, man ist monatelang im Studio eingeschlossen, in Eiseskälte. Auch in der Postproduktion, bei der Nachbearbeitung ist das ein hoher und langwieriger Aufwand. Einer allein kann das gar nicht stemmen; es würde viel zu lange dauern, bis es gesendet werden kann. Aber es reichte auch. Ich wollte lieber weiterschreiben. Und »Patrick Melrose« drehen.

Im Unterschied zu Ihren sehr viel einfacheren, realistischen Spielfilmen, erschaffen Sie in den drei großen Serien, »Deutschland 83«, »Patrick Melrose« und »The Terror« ganze Welten: Woher rührt dieser Kontrast?

Ich probiere gerne immer wieder etwas Neues aus, weil mir sonst langweilig wird. Ich mag es, mich auf dünnem Eis zu bewegen. Das Gefühl scheitern zu können, finde ich spannend und wichtig. Deswegen wollte ich auch »Deutschland 86« nicht machen, es bringt mir nichts, mich zu wiederholen. Bei »­Patrick Melrose« war meine erste Frage an Edward St. Aubyn, den Autor der Romanvorlage, was er den Menschen mitgeben möchte, die diese fünf Stunden seines Lebens anschauen. Er hat geantwortet, Befreiung von den Ketten unserer Vergangenheit und das war etwas, womit ich mich völlig identifizieren konnte. Diese Befreiung von einem total schizophrenen, zersplitterten Gehirn, von inneren Qualen, hin zu einem ersten Schritt ins ­Leben, zurück in die Normalität – das ist ein schöner Bogen, mit dem sich eigentlich jeder identifizieren kann, auch ich als Sohn eines Ingenieurs, der versucht, seinen Weg zu finden. Manche haben einen größeren Rucksack zu tragen, so wie Edward St. ­Aubyn, und manche einen kleineren. Aber sich befreien und einen Weg finden, das muss jeder.

Einen ausgeprägten Stilwillen gab es schon bei »Frau2 sucht Happy End«, aber »Patrick Melrose« ist mit einer so großen Freude am Look, an Ausstattung, Kostümen und Rhythmus gestaltet, dass die Serie fast wie ein Fremdkörper in Ihrem Werk wirkt . . .

Ich liebe die Bücher von Edward St. Aubyn seit 25 Jahren, diese Geschichte zu verfilmen, war völlig intuitiv. Wenn ich selbst schreibe, kann ich immer nur von etwas erzählen, womit ich mich identifizieren kann. Wenn jemand fragt, hast du nicht Lust, ein Buch über einen Afrikaforscher von 1840 zu schreiben, müsste ich darin etwas erkennen, was wirklich mit mir zu tun hat. Doch das finde ich eher in Geschichten, die ich mir selbst ausdenke, und da sieht es eben so aus, wie es in meinem Umfeld aussieht. Wobei »All My Loving« schon relativ stilisiert ist, sehr klar und einfach, und eben nicht nur dokumentarisch eingefangen, genau wie »Jack«, der in seiner Einfachheit auch sehr genau gestaltet ist. Aber es stimmt, wir haben keine Welt kreiert, die man nicht kennt. Ich finde es immer schön, wenn ich einen Stoff bekomme, in dem sich Autoren eine ganz andere Welt ausdenken, als ich es jemals könnte. Das ist doch reizvoll.

Was Ihre sehr unterschiedlichen Projekte verbindet, ist auch das feine Gespür für Schauspieler: Wie unterschiedlich gehen Sie heran, ob Sie mit einem Kind wie Ivo Pietzcker arbeiten oder mit einer großen Nummer wie ­Benedict Cumberbatch?

Ich habe immer einen genauen Plan, aber im Grunde ist meine erste Frage an den Schauspieler: Wie stellst du dir das vor? Wie willst du das spielen? Erst danach führe ich ihn an meine Ideen heran. Ich versuche, dem Schauspieler seinen Raum zu geben und das Gefühl, dass alles von ihm kommt. Und das ist bei Ivo Pietzcker das Gleiche wie bei Benedict Cumberbatch.

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