Kritik zu Zirkuskind
Die Dokumentation von Julia Lemke und Anna Koch kommt den Menschen im Zirkus ganz nah, insbesondere dem elfjährigen Santino auf seiner Suche nach seiner Rolle
Santino ist eines der vielen Kinder des Circus Arena und wird an dem Tag, als die Zuschauer zur Zirkusfamilie stoßen, elf Jahre alt. Wir springen mitten hinein in sein Geburtstagsfest, an dem alle Mitglieder der großen Akrobatenfamilie teilnehmen. Es ist der erste Tag, an dem das Regie-Duo Julia Lemke und Anna Koch mit den Aufnahmen für diesen außergewöhnlichen Dokumentarfilm beginnt. Ein ganzes Jahr lang begleiten wir Santino und seine Familie auf dem mühseligen und gleichzeitig erfüllenden Weg des Zirkusgeschäfts, die Jahreszeiten unterteilen den Film dabei in vier Kapitel.
Herzstück dieser Doku ist das Verhältnis von Santino zu seinem Uropa Frank, der den Zirkus gegründet hat. So entsteht ein Dialog über vier Generationen hinweg, von denen jede ihre eigenen positiven und negativen Erfahrungen gemacht hat. Wenn der alte Zirkusdirektor sehr anschaulich von der Vergangenheit erzählt, visualisieren sich seine Berichte in zart gestrichelten Animationssequenzen von Magda Kreps und Lea Majeran. Sie geben dem Film einen ganz eigenen Rhythmus und selbst schwierige Ereignisse werden dadurch kindgerecht erzählt. Die Franks sind Sinti, ihre Vorfahren wurden von den Nazis verfolgt. Die mündliche Überlieferung tragischer wie auch schöner Geschichten trägt zur Identifikation und zum Traditionsbewusstsein der Zirkusleute bei. Wir spüren die große emotionale Nähe, die die Menschen zusammenschweißt.
Dass sich die fahrenden Manege-Künstler und vor allem Santino und sein Uropa so unverstellt vor der Kamera öffnen, ist den Regisseurinnen zu verdanken, die sich immer schon für besondere jugendliche Schicksale interessiert haben. In ihrem Debütfilm »Glitzer und Staub« (2020) geht es beispielsweise um Cowgirls in Texas, eine Passion, die man bei Mädchen eher nicht vermuten würde, aber die Lemke und Koch als erzählenswert entdeckt haben. Ebenso haben wir bisher nie einen solch unvermittelten Einblick in die Welt des Zirkus erhalten, in dessen rauen, wie auch faszinierenden Alltag. Die Arena funkelt zur Vorstellung, Santino sieht in seinem roten Samtanzug schon sehr professionell aus. Er muss sich bald überlegen, welche Rolle er selbst einnehmen will, und das Talent entdecken, das er einmal unter der Zirkuskuppel präsentieren möchte. Denn dass er dabei bleibt, steht für ihn außer Frage, das antwortet er immer, wenn er in der Schule gefragt wird. Ungefähr alle zwei Wochen, wenn der Zirkus weiterzieht, muss er sich in einer neuen Klasse präsentieren, nie kann er dauerhafte Freundschaften schließen – auch davon erzählt der Film.
»Zirkuskind« wurde als erster Dokumentarfilm von der Initiative »Der besondere Kinderfilm« gefördert, ein Glücksfall unter den bisherigen Produktionen und ein Beleg dafür, dass es sinnvoll ist, auch den Dokumentarfilm für ein junges Publikum auf die große Leinwand zu bringen. Die Zirkuswelt ist spannend und unbedingt erzählenswert. Was wohl Santino als sein Talent entdecken wird? Dazu muss man in nächster Zukunft in den Circus Arena gehen, dann kann man es herausfinden.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns