42. Filmfest München

»Videoheaven« (2025). © FFM25

»Videoheaven« (2025). © FFM25

Entdeckungen im Internationalen Programm: vier Filme, die einen deutschen Verleih verdient hätten

»Videoheaven« (USA 2025; R: Alex Ross Perry)

Dem generationenübergreifenden Publikumsinteresse an »Nouvelle Vague«, Richard Linklaters Pastiche-Stück über die Dreharbeiten zu Godards »Außer Atem«, stand ein ebenso großes Desinteresse für »Videoheaven« gegenüber (auch der Regisseur, beim Festival anwesend für Interviews zu einem anderen neuen Film, ließ sich nicht blicken für ein Q&A). Inspiriert von einem Sachbuch verbindet die Erzählerstimme faktische Informationen zur Durchsetzung und zum Niedergang des Videoformats und der Videothek als sozialem Interaktionsraum, mit der Analyse von Filmausschnitten aus diesen Jahren – Filmausschnitte, die fast ausschließlich in Videotheken spielen. Dort können Beziehungen entstehen zwischen Kunden, die feststellen, dass sie einen ähnlichen Filmgeschmack haben, dort kann es aber auch zu unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Mitarbeitern kommen, die sich als die einzig wahren Cinephilen sehen und meinen, die Kunden von ihrem schlechten (oder zumindest Mainstream-)Geschmack mit aller Gewalt abbringen zu müssen. Daneben gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen, auch Monster tauchen auf, und peinliche Begegnungen, die meist mit der »Adults Only«-Sektion (abgetrennt vom Rest des Angebots durch einen Vorhang) zu tun haben. Vom Umschlagplatz für Schlockfilme wie die der Firma Troma über die »familienfreundlichen« Ketten von Unternehmen wie Blockbuster bis zu den gepflegten Superstores und am Ende dem Untergang durch die Streamingdienste, die es erlauben zu konsumieren ohne dafür das Haus verlassen zu müssen, reicht diese Chronik. Die gezeigten Ausschnitte, gleichermaßen aus Filmen, bei denen man längst vergessen hatte, dass sie Szenen beinhalten, die in einer Videothek spielen (wie etwa Michael Almereydas »Hamlet«), als auch aus solchen, von denen man vorher noch nie gehört hatte, machen große Lust, die Filme als Ganze (wieder-)zu sehen.

»Hard Truths« (GB 2024; R: Mike Leigh)

Fast elf Jahre ist es her, dass mit »Mr. Turner – Meister des Lichts« ein Film von Mike Leigh in den deutschen Kinos zu sehen war. Der Nachfolgefilm »Peterloo« (über ein historisches Massaker britischer Truppen an friedlichen Demonstranten) feierte seine deutsche Premiere vor sechs Jahren beim Filmfest München, stieß aber weder auf Interesse bei Verleihern, Home Entertainment-Anbietern oder Fernsehanstalten. Das droht wohl auch »Hard Truths«, obwohl sich Mike Leigh damit wieder der Gegenwart zuwendet und mit Marianne Jean-Baptiste eine Darstellerin hat, der sein Film »Secrets & Lies« eine »Oscar«-Nominierung einbrachte. Könnte aus der jungen Frau, die sich damals auf die Suche nach ihrer Herkunft begab, 28 Jahre später jene verbitterte Frau geworden sein, die hier ihre Familie ebenso wie Fremde mit ihren verbitterten Vorwürfen regelmäßig zur Verzweiflung treibt?

In Bezug auf ihren Sohn kann man das vielleicht verstehen. Der 22-Jährige lebt noch zu Hause, setzt sich Kopfhörer auf und hört Musik, entweder auf dem Bett liegend oder bei kurzen Spaziergängen, um sich mit Süßigkeiten einzudecken. Während ihr Ehemann als Klempner arbeitet, ist Pansy extrem um häusliche Sauberkeit bemüht, hat aber eigentlich an allem etwas auszusetzen. Glücklicherweise verfügt der Film mit Pansys jüngerer Schwester Chantelle (der Pansy vorhält, dass ihre vor fünf Jahren verstorbene Mutter sie immer bevorzugt habe) über einen Gegenpart, der – anders als andere – einer Konfrontation nicht ausweicht. »Ich verstehe dich nicht, aber ich liebe dich«, sagt sie einmal zu ihr. Dem Zuschauer jedenfalls wird es nicht einfach gemacht, diese Frau zu akzeptieren.

»Urchin« (GB 2025; R: Harris Dickinson)

Seit er 2017 sein Spielfilmdebüt in »Beach Rats« der US-Indiefilmemacherin Eliza Hittman gab, ist der Brite Harris Dickinson sowohl in britischen wie auch in US-Filmen oder auch der internationalen Koproduktion »Triangle of Sadness« zu sehen gewesen, meist in Indies und fast immer als gefährlicher Verführer, so auch zuletzt als Partner von Nicole Kidman in »Babygirl«.

In Cannes war er diesem Jahr mit seinem abendfüllenden Debüt hinter der Kamera vertreten: bei »Urchin« zeichnet er für Buch, Regie und Produktion verantwortlich (und hat zudem einen kurzen Gastauftritt). Der titelgebende »urchin« (eine altertümliche Bezeichnung für ein Straßenkind, bekannt aus Charles Dickens' Romanen) trägt den Namen Mike, lebt auf der Straße und landet zu Beginn des Films wieder einmal im Knast, nachdem er einen Mann, der ihm unter die Arme griff, kurz darauf niedergeschlagen und ausgeraubt hat. Wird er sieben Monate später, nach seiner vorzeitigen Entlassung, diesmal seine guten Vorsätze verwirklichen oder weiterhin seinen Träumen nachhängen, einen eigenen Limousinenservice aufzuziehen?

Ein Schlafplatz in einem Hostel, eine Anstellung als Koch in einem Kein-Sterne-Hotel, die Kraft dem Alkohol zu entsagen und die Meditationskassetten, die er immer wieder hört, könnten ihm dabei helfen. Die therapeutisch gemeinte Wiederbegegnung mit seinem Opfer hat allerdings nicht die erwünschte Wirkung. Mike ist ein Lebenskünstler, »street smart«, ein Stehaufmännchen, das sich nicht unterkriegen lässt, der um die eigenen Abgründe weiß, aber auch gut darin ist, diese zu verleugnen. Der Film versteht es, Sympathien für diese Figur zu wecken, was auch mit der Besetzung durch Frank Dillane (Sohn des Schauspielers Stephen Dillane) zusammenhängt.

»Outerlands« (USA 2025; R: Elena Oxman)

Noch ein Leben am Rand der Gesellschaft: in San Francisco lebt Cass, ein non-binärer Mensch, abends als Kellner und tagsüber als Kindermädchen arbeitend. Nebenbei verkauft Cass auch Drogen, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten – eine angedrohte Kündigung wegen ausstehender Mietzahlungen macht deutlich, dass das gar nicht so einfach ist.

Eines Abends trifft Cass im Waschsalon auf Kalli, eine Kollegin aus dem Restaurant: ihr langes Gespräch endet in Cass' Bett. Danach herrscht zunächst einmal Funkstille, bis Kalli eine Bitte äußert: ob sich Cass für ein paar Tage um ihre Tochter Ari kümmern könne, während sie für ein Jobangebot in eine andere Stadt fährt. Ein Kind von der Schule abzuholen, ihm etwas zu essen machen und es bei den Hausaufgaben beaufsichtigen, ist für Cass Routine, doch anders als die jüngeren asiatischen Schwestern, deren Mutter zu Cass' Stammkunden gehört und die ihn meist freudig bis enthusiastisch begrüßen, ist Ari eher abweisend. Ihre Mutter ist telefonisch nicht erreichbar und ruft auch nicht zurück. Als Cass von Ari erfährt, dass dies nicht das erste Mal ist, fragt er/sie sich, ob die verschwundene Mutter je wieder auftauchen wird – was auch Erinnerungen an seine/ihre eigene Kindheit wieder lebendig werden lässt: in der Obhut der Großmutter aufgewachsen, weil die Mutter oft abwesend war.

Neben dem einprägsamen Spiel von Asia Kate Dillon als Cass und Ridley Asha Bateman als Ari gefällt »Outerlands« vor allem durch seine Unvorhersehbarkeit. Denkt man zuerst, es würde um Cass' Identität zwischen den Geschlechtern gehen, mit Kalli und dem schwulen Kollegen Emile als Gegenpole, so steht schnell die Beziehung zwischen Cass und Ari im Mittelpunkt: eine langsame Annäherung, die auch immer wieder mit Rückschlägen zu kämpfen hat. Zum wichtigen Vehikel wird dabei das titelgebende Videospiel »Outerlands«, ein Teil aus Cass' Kindheit, jahrzehntelang in einem Pappkarton im Schrank verborgen. Wie darin ein im All verlorener Astronaut seinen Weg nach Hause finden muss, damit können sich sowohl Cass als auch Ari identifizieren. Ganz beiläufig wird Cass' Alkoholproblem ins Bild gesetzt, das abendliche Bier und der Blick in den Kühlschrank, der nichts anderes enthält. In München wurde »Outerlands«, das abendfüllende Debüt von Elena Oxman, mit dem Preis der Queer Media Society ausgezeichnet.

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