Kritik zu Weißer weißer Tag

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Der bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck 2019 ausgezeichnete isländische Film um Verlust und Trauer ist nach dem Geschwisterdrama »Vinterbrødre« das zweite Werk von Hlynur Pálmason

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Ingimundur ist ein wortkarger Mann. Keiner, dessen Stärke der eloquente Dialog ist. Es dauert lange, bis wir erfahren, dass seine Frau vor langer Zeit bei einem Autounfall an der Küste Islands gestorben ist. Seitdem ist Ingimundur, der der Polizeichef der Gemeinde war, vom Dienst freigestellt, was ihn aber nicht daran hindert, seine beiden ehemaligen Kollegen zu besuchen, als wäre nichts gewesen. Für seine Tochter und ihre Familie baut er ehemalige Stallungen zu einem Wohnhaus um, und er kümmert sich rührend um seine Enkelin Salka. Ingimundur wird dargestellt von Islands berühmtestem Schauspieler Ingvar Sigurðsson, der zu Nuancen fähig ist, dem aber, zumindest in diesem Film, auch ein Akkuschrauber gut in der Hand liegt. Und schon das macht ­»Weißer weißer Tag« zu einem Ereignis. Man merkt diesem Ingimundur an, wie es ihm brodelt. Sigurðsson hat dafür den Darstellerpreis der Semaine de la Critique in Cannes gewonnen – und der Film den Hauptpreis bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck im November.

Einmal in der Woche muss Ingimundur zu einem Psychologen. Das macht ihm keinen Spaß und bringt ihm nichts. Auf die Frage »Wissen Sie, wer sie sind?« antwortet er mit »Ingimundur«. Und die noch dämlichere Nachfrage »Was will Ingimundur?« pariert er mit »Ein Haus bauen«. Selbst wenn man das unter Psychologenkarikatur oder der sprichwörtlichen skandinavischen Lakonie verbuchen mag: Ingimundur trauert, auch wenn er das vielleicht nicht weiß. Als seine Tochter ihm die Hinterlassenschaft seiner Frau überbringt und er sie sichtet, schöpft er den Verdacht, dass seine Frau ihn betrogen hat, was sich durch eine DV-Kassette in der Box erhärtet. Und Ingimundur rastet aus, demoliert zuerst die Praxis des Psychologen (der mit ihm skypt), sperrt dann seine ehemaligen Kollegen ein und stellt seinen ehemaligen Nebenbuhler.

Isländische Filme sind bekannt dafür, dass sie die Topographie der Insel wie eine Seelenlandschaft einsetzen. Nun, dieser Film schlachtet die Szenerie sicherlich nicht aus, er geht eher wohlkalkuliert mit ihr um. Nach dem Unfall zu Beginn sieht man die Stallungen in immer der gleichen Einstellung, aber im Wechsel der Jahreszeiten; mal scheint die Sonne, mal liegt Schnee, so dass man ermessen kann, dass der Unfall etwa zwei Jahre her ist. Und die Gebäude selbst fungieren als so etwas wie eine Metapher für den inneren Zustand Ingimundurs: außen schon wetterfest, aber innen noch ziemlich provisorisch.

Und zwei Mal taucht in diesem Film der Nebel auf. Bei der Unglücksfahrt und am Ende, als Ingimundurs Rachsucht verflogen ist und er weiß, dass er zu weit gegangen ist. Dem Film ist ein Motto, ein altes Sprichwort, vorangestellt: »An den Tagen, an denen alles weiß ist und es keinen Unterschied mehr zwischen Himmel und Erde gibt, sprechen die Toten zu uns, die wir noch lieben.« Und Ingimundur trägt seine Enkelin nach Hause, ein bisschen wie Ethan Edwards seine Nichte Debbie getragen hat, in John Fords berühmtem »The Searchers«. Etwas hat sich verändert in ihm. Und er wird weinen können.

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