Interview: Alexandros Avranas über »Quiet Life«
»Quiet Life« (2024). © Les Films du Worso / SFP
Ihr Film hat seinen Ausgangspunkt in einem Artikel, den Sie in der Zeitung gelesen haben...
Ja, der erschien 2017 oder 2018 im Magazin »New Yorker« und handelte vom »Resignations-Syndrom«. Das hatte man zuvor als Apathie bezeichnet – so lautete auch der ursprüngliche Filmtitel.
Wurde das damals in verschiedenen Ländern diagnostiziert?
Nein, nur in Schweden, erstmals 1998. Zum ersten Mal wurde es benutzt im Zweiten Weltkrieg für die Insassen von Konzentrationslagen, wo die Menschen jede Hoffnung verloren. Das kann überall auf der Welt passieren. Inzwischen wurde es in Griechenland, in Australien und zuletzt bei ukrainischen Kindern diagnostiziert.
Und zwischen 1945 und 1998 wurde das vollkommen vergessen?
Ja, da sprach man gelegentlich von Katatonie, aber stellte keine Verbindungen her.
Wie sind Sie dann von dieser Lektüre zu der Idee gekommen, die Geschichte in einer nicht so fernen Zukunft anzusiedeln?
Ich fand, dass dieses Syndrom etwas dystopisches an sich hatte. Das wollte ich mit der Situation von Geflüchteten in eine Balance bringen. Dabei war es mir wichtig, das ein Stück weit von der schwedischen Realität entfernen, weil ich denke, dass es nicht nur auf diese zutrifft.
In den siebziger Jahren herrschte die Vorstellung, vermutlich nicht nur in Deutschland, dass die schwedische Gesellschaft besser sei – zwar auch kapitalistisch, aber emanzipierter in den Moralvorstelllungen und sozial gerechter, gewissermaßen das Modell einer sozialdemokratischen Gesellschaft. War das eine Illusion oder aber hat es seitdem dort einen tiefgreifenden Wandel gegeben? Im Moment scheinen Schweden und Dänemark in der Einwanderungsfrage eher eine rigide Politik zu verfolgen.
Das stimmt – in Schweden Asyl zu erhalten, wird immer schwieriger. Früher dachte jeder, dass Schweden ein modernes Land sei, das lag auch an einem Premier wie Olaf Palme. Wenn die Einwanderer in Schweden sind, können ihre Kinder die Schule besuchen und sie bekommen staatliche Unterstützung. Aber bis über ihren Asylantrag entschieden wird, kann das bis zu zwei Jahren dauern. Und dann kommt möglicherweise ein Ablehnungsbescheid mit der Aufforderung, das Land innerhalb von zehn Tagen zu verlassen – die Kinder kommen gewissermaßen vom Himmel in die Hölle.
Die zehn Tage sind keine Fiktion?
Es ist nur wenig mehr, ich glaube 15 Tage, maximal drei Wochen.
Die Maßnahmen, die in Ihren Film von Seiten der Einwanderungsbehörde getroffen werden...
...sind realistisch. Das habe ich bei der Einwanderungsbehörde recherchiert.
Was ich als besonders verstörend empfand, war das Verhalten der Regierungsangestellten: einmal zeigt der Vater seine Narbe, die von den Folterungen zurückgeblieben ist – woraufhin die Frau, die ihm gegenüber sitzt, zuerst wegschaut und dann den Raum verlässt. Später sagt die Frau, die die Familie für die nächste Anhörung coachen soll, er solle die Folter nicht erwähnen...
Der Raum, in dem diese Befragung stattfand, war wirklich so klein und beengt. Als ich den Leiter der Einwanderungsbehörde in Göteburg fragte, wohin diese andere Tür hinter den Kommissionsmitgliedern führe, antwortete er mir, das sei die Fluchttür für seine Mitarbeiter für den Fall, dass die Anhörung zu emotional würde und sie das nicht verkraften könnten. Die Schweden zeigen nicht gerne ihre Gefühle und sind eher konfliktscheu. Was den Coach anbelangt, so war das ein Stück weit imaginiert, aber nicht so unrealistisch in einer Gesellschaft, die glaubt, viele Probleme durch Coaching lösen zu können.
Haben Sie die Schauspielerin, die diesen Coach verkörperte, instruiert, eher roboterhaft zu agieren? In manchen Momenten fragte ich mich, ob das überhaupt ein Mensch sei oder vielleicht nicht doch ein Android, eine künstliche Intelligenz.
Das war für mich eine logische Konsequenz aus dem Nichtzeigen von Gefühlen – im Extrem wirkt es roboterhaft. Das verstand die Schauspielerin.
Ist das Syndrom, das am Ausgangspunkt Ihres Films stand, in Schweden weithin bekannt oder versuchen offizielle Stellen, es eher nicht zu benennen?
Die Regierungsposition dazu verändert sich fortwährend, es ist immer noch ein heißes Eisen für sie. Lange Zeit behaupteten sie, es existiere nicht, es sei bloß eine Erfindung, die Kinder würden einfach alles tun, um ihren Eltern zu helfen. Wissenschaftler haben dem aber stets widersprochen, so dass 2018 eine Studie in Auftrag gegeben wurde. Ich habe deren Leiter getroffen und er bestätigte, dass es dieses Syndrom gebe. Natürlich gäbe es auch Menschen, die das nachahmen würden, aber das bedeute nicht, dass es dieses Syndrom nicht gäbe.
Im Film geht es soweit, dass Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde die Eltern beschuldigen, ihre eigenen Kinder vergiftet zu haben, um dadurch der Abschiebung zu entgehen...
Das hat sich tatsächlich so ereignet.
Der Film ist eine Koproduktion von sechs europäischen Ländern: Frankreich, Schweden, Griechenland, Deutschland, Finnland und Estland. Wie kam das zustande?
Das war wesentlich ein Verdienst von arte in Frankreich, die Partner in den anderen Ländern hatten.
Sie leben selber in Schweden?
Nein, dort war ich nur für die Produktion dieses Films, ich lebe in Griechenland und spreche auch kein Schwedisch. Mit den russischen Darstellern habe ich mich auf Englisch verständigt, mit den Kindern mit Hilfe der russischen Darsteller und eines Dolmetschers. Gedreht haben wir übrigens nicht komplett in Schweden, das wäre viel zu teuer gewesen. Wir hatten 15 Drehtage in Estland, fünf in Finnland und fast zwanzig in Schweden. An einer futuristischen Architektur hatte ich kein Interesse, mir kam es darauf an, wie die Geflüchteten den Raum wahrnehmen.
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