San Sebastian: Geschichten von Verlust und Selbstbehauptung

»O corno« (2020)

»O corno« (2020)

Bei den 71. Filmfestspielen von San Sebastian siegte der Debutfilm einer spanischen Regisseurin: »O corno« von Jaione Camborda gewann die Goldene Muschel

Wie geht es mit dem Kino weiter? Das war das Thema einer der vielen Diskussionsveranstaltungen, die das traditionsreiche Filmfestival von San Sebastian in diesem Jahr anbot und zu der es Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Europa einlud. Ist der Erfolg von »Barbenheimer« – also die hervorragenden Zahlen der US-Filme »Barbie« und »Oppenheimer« – noch einmal zu wiederholen? Die Fachleute aus der Kino- und Verleihbranche waren sich zwar einig, dass es nach der Pandemie wieder aufwärts geht, dass aber europäische Filme nicht in derselben Liga wie »Barbenheimer« spielen können – schon aufgrund der viel niedrigeren Budgets in den europäischen Kinonationen. Das ist aber, wie man hinzufügen muss, ein weltweites Phänomen.

Ablesen konnte man das in diesem Jahr auch an dem Wettbewerb des Festivals in San Sebastian, das zu den großen vier in Europa zählt und das größte und wichtigste in der spanischsprachigen Welt ist. Es waren, wie auch schon im letzten Jahr, eher kleine Filme mit privaten, existenziellen und doch auch berührenden Geschichten, die Festivaldirektor José Luis Rebordinos und sein Team in ihre Auswahl eingeladen haben. Filme, die vom Tod, von Selbstbehauptung oder Lebenskrisen handelten. 

Symptomatisch war der Gewinner der Goldenen Muschel, »O corno« (The Rye Horn, deutsch »Mutterkorn«) der Spanierin Jaione Camborda. Maria arbeitet als Hebamme auf der Illa de Arousa. Es ist 1971, noch herrscht die Diktatur Francos. Als ein junges Mädchen schwanger wird, nimmt sie mithilfe des weheneinleitenden Mutterkorns eine – damals illegale – Abtreibung vor. Das Mädchen stirbt, und Maria flüchtet aufs Festland und nach Portugal, wo sie ihr eigenes Kind zur Welt bringt. »O corno« ist ein konzentrierter Film, er verzichtet auf eine übliche Spannungsdramaturgie und hält Augenblicke fest, worauf schon der Beginn des Films, eine rund zehnminütige Geburtsszene, die nur den Schmerz der Gebärenden zeigt, einschwört. 

Oder »Chun xing« (A Journey in Spring) der beiden taiwanesischen Regisseurinnen Tzu-Hui Peng und Ping-Wen Wang: der Versuch, die Gefühle von Trauer und Schuld in Bilder einzufangen. Ein alter grantliger Mann wird mit dem Tod seiner Frau konfrontiert (die er erstmal einfriert) und fährt zu dem Sehnsuchtsort, von dem sie immer erzählt hat, einem spektakulären Wassserfall. Die beiden Regisseurinnen haben ihren Film mit analogem Super-16-Zelluloidmaterial gedreht und legten Wert darauf, dass man dies auch während der digitalen Projektion sieht (durch Bildstrich und Perforationslöcher). Das kann man durchaus manieriert finden, schwerer wiegt aber, dass der alte Mann immer mit gesenktem Blick durch den Film laufen muss, dass er als Charakter keine Tiefe erhält. Die Jury unter dem Vorsitz der französischen Regiseurin Claire Denis, der auch Christian Petzold (»Roter Himmel«) angehörte, hat dem Film die Silberne Muschel für die beste Regie zugesprochen, eine schwer nachzuvollziehende Entscheidung. 

»O corno« wie auch »Chun xing« waren Debuts, Erstlingswerke, das sollte man bei aller Kritik auch immer im Kopf behalten. Der Wettbewerb dieser 71. Festivalausgabe gehörte dem Nachwuchs: 10 der 16 Filme im Rennen um die Goldene Muschel waren erste oder zweite Werke. Selbst Noah Pritzker (USA) legte mit seinem professionell gefälligen und doch anrührenden »Ex-Husbands« (mit Griffin Dunne und Patricia Arquette) erst seinen zweiten Film vor, auch eine Geschichte von Verlustverarbeitung über mehrere Generationen hinweg. Die Arrivierten konnten in diesem Jahr nicht punkten. Der festivalerfahrene Rumäne Cristi Puiu stellte mit »MMXX« den vielleicht sperrigsten Film des Wettbewerbs vor, vier Geschichten aus der Zeit der Pandemie (worauf der Titel hinweist), mit 160 Minuten überlang, sehr disparat inszeniert, mit mitunter hektischen Rhythmus, aber auch statischen Einstellungen. Die Spanierin Isabel Coixet legte mit »Un amor« eine seltsame Liebesgeschichte aus Katalonien vor, die mit dem Tausch Sex gegen Arbeitsleistung beginnt. 

Wie immer war der spanischsprachige Film ein Schwerpunkt des Wettbewerbs, der in diesem Jahr zwar vielfältig daher kam, aber wenig Highlights bot. Zu denen gehörten zweifellos die beiden argentinischen Beiträge, die einzigen Komödien in diesem Jahr. »La práctica« (The Practice) von Martin Rejtman erzählt lakonisch und mit viel Situationskomik von einem in Chile lebenden argentinischen Yoga-Lehrer in einer Lebenskrise. In einer Zeit des Umbruchs befindet sich auch der Hochschullehrer Marcelo in »Puan« von Maria Alché und Benjamin Nashtat. Eigentlich soll Marcelo Leiter der Philosophie-Abteilung werden, aber als ein Kollege aus dem Ausland zurückkommt, verändert sich seine Situation. Ein bisschen was von Woody Allen und seiner Stadtneurotiker-Figur hat dieser Marcelo, den Selbstzweifel plagen, dem eine gewisse Ungelenkheit zu eigen ist und der sich in der klassischen Philosophie am wohlsten fühlt. Immerhin hat »Puan« den Preis für das beste Drehbuch bekommen und Marcelo Subiotto den Darstellerpreis. An beiden Filmen war die Kölner Produktionsfirma Pandora beteiligt, so dass sie möglicherweise auch zu uns ins Kino kommen. Freuen wir uns drauf.

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