Die besten Filme der Welt – Das 42. Göteborger Filmfestival

»Harjuku« (Erik Svensson, 2018)

»Harjuku« (Erik Svensson, 2018)

Von der Apokalypse bis zum Einmannkino: die 42. Ausgabe des Göteborger Filmfestivals war für so manche Überraschung gut

Der sogenannte blaue Planet gehört der Vergangenheit an, nachfolgende Zivilisationen interpretieren das Leben posthum, mit amüsanten Fehlern: Rostige Blechbüchsen gelten als Währung, das Skelett eines Vogels als Kommunikationsmittel und eine Filmrolle als Gehirn, in dem die vielen kleinen rechteckigen Bilder angeblich widergeben, was dieser eine Mensch an einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens gedacht habe: Der Trailer des Göteborg Festivals ist auf das Spezialthema des Jahres abgestimmt, der Apokalypse ist eine Reihe mit rund 20 Spiel- und Dokumentarfilmen gewidmet, darunter moderne Klassiker wie »Melancholia« von Lars von Trier, neue Filme wie »In My Room« von Ulrich Köhler und »Gegen den Strom« von Benedikt Erlingson, aber auch Entdeckungen wie »Aniara« über eine im Weltraum gestrandete Fähre für Mars-Auswanderer. Und weil sich die Festivalmacher (künstlerische Leitung: Jonas Holmberg) jedes Jahr eine besondere Kinolocation einfallen lassen, Filmbilder etwa schon in einer Kirche oder einer Moschee projiziert haben, wurden acht geräumige, schwarze Särge gezimmert, Einmannkinos mit Panik-Button, in denen man sich die Bilder von der Weltraumfähre in klaustrophobischer Lage quasi direkt ins Hirn speisen lassen konnte. Im Übrigen tut sich in Schweden Einiges, damit es zum Weltuntergang nicht so schnell kommt, das Land ist Vorreiter auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit, die Stadt Göteborg hat sich drei Jahre in Folge das Label »nachhaltigste Stadt der Welt« geholt.

Es ist die 42. Ausgabe eines Festivals, das einst als Selbsthilfeprojekt gegründet wurde, weil ein paar Studenten der Meinung waren, dass draußen in der Welt so viele tolle Filme zu sehen sind, die im schwedischen Filmprogramm nie auftauchen. Bis heute geht es darum, die besten Filme der Welt in die Stadt zu holen, und umgekehrt die besten aus den nordischen Ländern in die Welt zu bringen. 400 Filme laufen in zehn Tagen, eine Nachlese der großen Weltfestivals, vor allem aber viele Entdeckungen aus Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland und Island. Was auffällt bei den Filmen aus dem Norden, jenseits des Mainstreams, ist die Intimität des Blicks, eine vibrierende Unmittelbarkeit, mit der die Filme in disfunktionale Familienverhältnisse eintauchen. Zu den intensivsten gehörte Blind Spot, in dem sich die Schauspielerin Tuva Novotny als Spielfilmregiedebütantin in einer einzigen Einstellung 98 Minuten lang an die Fersen einer Schülerin heftet, die sich unvermittelt aus dem Fenster stürzt, und ihrer Mutter, die versucht, das Unerklärliche zu verstehen, während die Ärzte um ihr Leben kämpfen. In »Harajuku« von dem Norweger Eirik Svensson ist es die alleinerziehende Mutter der fünfzehnjährigen Vilde, die einen Tag vor Weihnachten in den Tod springt und den Teenager in einen existenziellen Strudel wirft, zwischen ihren Comic-Fluchtträumen in die bunte japanische Kultur und der harschen Realität, in der ihr Kinderheim oder Pflegefamilie drohen. Die junge Schauspielerin Ines Høysæter Asserson verkörpert dieses Mädchen mit wasserblau gefärbten Haaren, zwischen wütendem Trotz und himmelschreiender Verlorenheit mit einer so rohen und zugleich zarten Sensibilität, dass sie allemal das Zeug hätte zum European Shootings Star. Auf immer neue und herzzerreißende Weise gelingt es den Filmemachern, unausgesprochene Gefühle schmerzhaft unmittelbar zu verdichten. Das gilt auch für die von Trine Dyrholm gespielte Mutter, die sich im Nordic-Competition-Gewinnerfilm »Queen of Hearts« von May El-Toukhy auf ein brandgefährliches Spiel mit ihrem Stiefsohn einlässt, einem verstörten Teenager, der die neue Familie seines Vater mit einem manipulativen Mix aus Wut und Verletzlichkeit zu sprengen droht. Auch die dreizehnjährige Jill gehört zu den Kindern, die viel zu früh erwachsen werden müssen.  Das Kraftfeld des norwegischen Films Phönix  von Camilla Strøm Henriksen ist ein fürchterliches Geheimnis, das sie im Umfeld ihres Geburtstages hütet, an dem sie fragile Momente des Glücks gegen eine maßlose Tragödie verteidigen muss.

Auffallend häufig rührt die Kraft dieser Filme von weiblichen Filmemachern und faszinierend komplexen Frauenfiguren, ein klarer Erfolg von Anna Serner, der Leiterin des schwedischen Filminstituts, die seit vielen Jahren leidenschaftlich für Geschlechtergleichheit in der Filmförderung kämpft und das für 2020 angestrebte 50/50-Ziel fast erreicht hat.

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