Alain Resnais: Ein Optimist der Form

Ein Nachruf auf den Regisseur Alain Resnais, 3.6.1922 – 1.3.2014
Alain Resnais

Seine Arbeitsmethode war die respektvolle Vereinnahmung der Talente vor und hinter der Kamera

Am Ende imitierte das Leben immer häufiger die Kunst. Das wird ihm gefallen haben. Zur Vorstellung seines letzten Films Aimer, boire et chanter auf der Berlinale konnte er nicht mehr anreisen. So war bei der Pressekonferenz stets von einem Abwesenden die Rede: ebenso wie im Film, wo man den sterbenskranken George, dessen Name in aller Munde ist, niemals sieht. Die Dreharbeiten hatte Resnais im Rollstuhl beenden müssen, in einem Zustand fröhlicher Unruhe. 

Am Tag wiederum, an dem die Nachricht von seinem Tod kam, erging es Filmliebhabern in aller Welt wie den Schauspielern zu Beginn seines vorletzten Films Ihr werdet euch noch wundern (2012), die den Anruf eines Nachlassverwalters erhalten, der ihnen eine traurige Nachricht übermitteln muss. Hatte der Zuschauer eine andere Wahl, in der heiteren Trauerfeier, die in diesem Film begangen wird, etwas anderes zu sehen als das filmische Vermächtnis seines Regisseurs? In dem Alter, das Resnais während der Dreharbeiten erreichte – 90 –, ist man versucht, sein Lebenswerk abzurunden und vorsichtshalber noch einmal die alten Weggefährten um sich zu scharen. Die Testamentseröffnung im Film war für Resnais kein Abschied vom Kino, sondern Anlass zu einem prunkenden, geselligen Gipfeltreffen französischer Schauspielkunst. 

Der Regisseur wird es wohl gelassen hingenommen haben, dass man seine letzten Werke als Schlüsselfilme betrachtet, denen es nicht an Koketterie fehlt. Allerdings hat sich Resnais nie dem Verdacht ausgesetzt, in seinen Filmen einem autobiografischen Impuls zu folgen. Stets verstand er sich als Regisseur, der souverän Besitz ergreift von den Vorlagen fremder Autoren. Dass die letzten Filme auf Friedhöfen enden, musste man mithin nicht als Menetekel lesen. Den Tod hatte der unternehmungslustige Veteran auf der Leinwand schließlich schon oft geprobt. Seinem Produzenten jedenfalls trug er auf, bei der Premiere von Aimer, boire et chanter nicht die Arbeit am nächsten Film zu vergessen, dessen Drehbuch er bereits schrieb. Wiederum sollte es die Verfilmung eines Stückes von Alan Ayckbourn sein, dessen Bühnenspiel mit Raum und Zeit er bereits viermal fürs Kino adaptiert hatte. 

Der in Vannes in der Bretagne als Sohn eines Apothekers geborene Regisseur taugte nicht als Musterbeispiel für die Autorentheorie, welche die Kritiker der »Cahiers du cinéma« in den 1950er Jahren aus der Taufe hoben. Zwar war er ebenso wie sie in der Obhut der Cinémathèque française aufgewachsen, aber der Radius seiner künstlerischen Inspiration war weiter gefasst. Ihn trieb die Neugierde an, in die Vorstellungswelt eines anderen einzudringen. Die Drehbücher zu seinen Filmen entstanden jeweils aus der Verabredung mit einem Autor, der bereits eigenständigen Ruhm errungen hatte. Anfangs war er eng verbunden mit der Generation des Nouveau Roman: mit Raymond Queneau, Marguerite Duras und Alain Robbe-Grillet. Später schrieben Jorge Semprun, David Mercer und das Gespann Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri Szenarien für ihn. Erst in den letzten Jahren schrieb er selbst an den Drehbüchern mit; unter einem Pseudonym (Alex Reval) wohlgemerkt. Nie war im Vorspann seiner Filme zu lesen: »Ein Film von Alain Resnais«. Er nahm für sich nur den Titel des Regisseurs in Anspruch. 

Das Filmemachen war für ihn Gemeinschaftsarbeit. Bis zuletzt entwarf Jacques Saulnier für ihn elegante Szenenbilder. Seit Das Leben ist ein Roman kreisten seine Filme um das Darstellerensemble Sabine Azéma, Pierre Arditi und André Dussollier. Stets erweiterte er diesen Kreis: Mathieu Amalric, Michel Vuillermoz und zuletzt Caroline Sihol erwiesen sich als prächtige Neuzugänge in seinem filmischen Kosmos. Seine Arbeitsmethode war die respektvolle, gewissenhafte Vereinnahmung der Talente vor und hinter der Kamera. Sein treues Scriptgirl Sylvette Baudrot war immer wieder verblüfft von der Großzügigkeit, mit der er alle Mitglieder des Teams in sein erzählerisches Vorhaben einband: Für Hiroshima, mon amour musste sie alle Romane von Duras lesen, für Letztes Jahr in Marienbad alles von Robbe-Grillet, bei ­Smo­king/­No Smoking standen sämtliche Stücke von Alan Ayckbourn auf ihrer Lektüreliste. Und dabei war sie eigentlich nur dafür zuständig, dass die Anschlüsse zwischen den einzelnen Einstellungen stimmten!

Aber trotz dieser kreativen Offenheit verrät jeder seiner Filme unweigerlich Resnais’ Temperament. Erinnerung und Vergangenheit sind Themen, die sich seit Nacht und Nebel (1955) durch sein Werk ziehen, meist auch – wie in Hiroshima, mon amour (1955) und Muriel (1963) – in der Doppelwertigkeit von persönlichem und historischem Vergessen. Krankheit und Tod sind ein häufig auftauchendes Motiv; seit Je t’aime je t’aime (1968) häufen sich die Selbstmorde in seinen Filmen. Von Das Leben ist ein Chanson (1997) an drehte er vornehmlich Tragikomödien des Zusammenlebens, erzählte von alltäglichen Achtlosigkeiten und Selbsttäuschungen. Wenn Resnais nun in einigen Nachrufen als der »Formalist der Nouvelle Vague« bezeichnet wird, ist das in vielfacher Hinsicht ein Missverständnis. Er hielt Distanz zum Klüngel der »Cahiers«, folgte einem ganz eigenen künstlerischen Parcours. Jeder Film sollte sich überdies radikal vom vorangegangen unterscheiden. Sein Kino hält dabei rege Zwiesprache mit den anderen Künsten. Jeder Film ist ein Spiel mit den Möglichkeiten, die sich aus dieser Verbindung ergeben. Die Hochkultur ging bei ihm stets eine vergnügte Allianz mit der populären ein. In Mein Onkel aus Amerika (1980) verknüpfte er Theorien des Verhaltensforschers Henri Laborit mit der Illusionsmaschinerie des französischen Starsystems; für Vorsicht Sehnsucht inspirierten sich er und Eric Gautier an den Comics von Will Eisner und schufen dabei Farbakzente, deren Heftigkeit zugleich an die Malerei der »Fauves« erinnert. In den letzten drei Jahrzehnten strebte er danach, den Widerspruch zwischen Theater und Kino aufzulösen und griff gern auf Vorlagen vom Boulevard zurück. 

Resnais war ein unerschütterlicher Optimist der Form. Es war für ihn undenkbar, sie vom Inhalt zu trennen. Stil war für ihn unverzichtbar: als der eleganteste und ökonomischste Ausdruck eines Gefühls. Er hat sich immer dagegen verwehrt, ein engagierter Filmemacher zu sein. Obwohl seine Themenwahl bis in die 1970er Jahre es nahelegt, sind seine Filme nicht im strengen, banalen Sinne politisch. Sehr wohl haben sie jedoch das Verhältnis von politischem und privatem Leben im Blick. Sein Beitrag zu dem Kollektivfilm Loin du Vietnam handelt vom Zögern eines Intellektuellen, seiner Unfähigkeit, über den Krieg zu sprechen, der Schwierigkeit, Position zu beziehen. Nacht und Nebel war für ihn vor allem ein Film, der der Frage nachgeht, wie man die Gräuel der Konzentrationslager angemessen darstellen kann. Der Kommentartext von Jean Cayrol hebt gleich zu Beginn die Anwesenheit der Kamera hervor. Die Fahrt, die sie über das Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers unternimmt, besitzt die erdenklich größte Anmut. Sie ist auch ein Akt der moralischen Besitznahme.

Die Art, wie er in Hiroshima, mon amour Do­­kumentarbilder von den Verheerungen der Atombombe mit berückend sinnlichen Liebesszenen montierte, brachte dem Film bei der Premiere den Vorwurf ein, kitschig zu sein. Aber Resnais war entschlossen, neben dem Schrecken der Schönheit in seinem Film Platz einzuräumen. Dieser ästhetischen Moral blieb er treu. Er nahm sich alle Freiheiten. Aber seine Anarchie war nicht ungestüm, sondern besonnen. Das Streben nach Eleganz ist die melancholische Konstante seines Werks. Er drehte Filme aus der Freude am Erlesenen. Sie waren in den letzten Jahrzehnten vielleicht deshalb so leichtfüßig und schwerelos, weil er den Zuschauern nicht zur Last fallen wollte.   

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