Kritik zu Winter's Bone

© Ascot Elite

2010
Original-Titel: 
Winter's Bone
Filmstart in Deutschland: 
31.03.2011
L: 
100 Min
FSK: 
12

Die amerikanische Provinz in all ihrer sozialen Härte, gefilmt als düsterer Western mit einem jungen Mädchen als zentraler Heldin: Debra Graniks Film ist die Independent-Sensation der diesjährigen Oscars

Bewertung: 5
Leserbewertung
3
3 (Stimmen: 1)

Armut wird im amerikanischen Kino immer noch als vornehmlich urbanes Phänomen behandelt. Und damit als Integrationsproblem, an dem sich der langsame Zerfall der amerikanischen Großstädte abzeichnet. Nur wenige Filme haben in den letzten Jahren ein differenzierteres Bild gezeigt – ein Bild von jenem anderen Amerika, das immer dann bemüht wird, wenn die Medien mal wieder nach einer Erklärung für die gravierende Diskrepanz im Wählerverhalten zwischen den Küstenstädten und dem sogenannten »Heartland« suchen. David Gordon Greens »George Washington« war vor einigen Jahren so eine Ausnahme. Oder kürzlich Kelly Reichardts »Wendy and Lucy«. Das Hollywoodkino erfasst die Lebens­umstände von 80 Prozent aller Amerikaner höchstens marginal. Wenn dann mal ein Film wie Debra Graniks »Winter’s Bone« in die Kinos kommt, versteht man plötzlich wieder ein bisschen besser, warum es in diesem Land Menschen gibt, die sich nicht für Barack Obamas Gesundheitsreform oder das Haushaltsdefizit interessieren. Weil ihr Leben mit dem, was in den Nachrichten behandelt wird, nur sehr wenig zu tun hat.

Genau das macht die Qualität von »Winter’s Bone« aus. Nicht, dass da ein junges Mädchen namens Ree (Jennifer Lawrence) allein ihre kranke Mutter und ihre zwei jüngeren Geschwister durchbringt und nebenbei noch den verschwundenen Vater suchen muss, weil von seinem Verbleiben abhängt, ob die Familie ihr Haus behalten kann. Auch nicht der Krimiplot um den lokalen Patriarchen und seine Inzestfamilie, die die illegalen Aktivitäten in den Wäldern von Missouri kontrolliert und wahrscheinlich auch etwas mit dem Verschwinden des Vaters zu tun hat. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der Granik diese Community an einem vermeintlichen Außenposten der westlichen Zivilisation schildert. Umso erschütternder schließlich die Erkenntnis, dass »Winter’s Bone« eben nicht am Rande der Zivilisation spielt, sondern im geografischen Zentrum der reichsten Industrienation der Welt.

Jeder ist in »Winter’s Bone« in irgendeiner Form mit dem anderen verwandt, auch wenn die familiäre Bindung nur so weit reicht, wie sie von Nutzen ist. Gleichzeitig ist dies eine verschworene Gemeinschaft: Hier redet niemand, weder mit dem örtlichen Sheriff noch miteinander. Es muss auch gar nichts ausgesprochen werden – auch nicht, dass Rees verschwundener Vater heimlich die Billigdroge Crystal Meth produzierte. »Jeder weiß das«, erklärt ihr eine Kusine, »das musst du nicht extra erwähnen.« Denn auch was nicht unmittelbar gesagt wird, ist unmissverständlich. »Ich habe dich einmal mit Worten gewarnt, die Klappe zu halten«, fährt Rees Onkel seine Frau an, als die ihn überreden will, dem Mädchen zu helfen. Die Botschaft kommt an. »Winter’s Bone« ist in dieser Hinsicht eindeutig, auch ohne große Worte.

Granik geht in »Winter’s Bone« fast anthropologisch vor. Ihren Respekt vor den fremden Lebensverhältnissen in den Ozark-Mountains (der Film wurde vor Ort gedreht) zollt sie durch sorgfältiges Beobachten. Einmal platzt Ree auf der Suche nach dem Vater in eine Geburtstagsfeier. Die Familie ist im Wohnzimmer versammelt, gemeinsam spielt man ein regionales Folktraditional. Der Film ruht für einen Moment auf dem klaren Gesang der alten Frau, der so gar nicht zur verknitterten Geburtstagsrunde passen will. Im Vorbeigehen streift die Kamera dann das Foto eines jungen Mannes in Militäruniform. Solche Details tauchen in »Winter’s Bone« vereinzelt auf. Granik wählt sie sehr bedacht, weil sie auf eine soziale Realität außerhalb verweisen. Auch Ree will am Ende zur Armee gehen, weil sie darin die einzige Chance sieht, das Haus ihrer Familie zu retten. Militärdienst oder Drogenkochen, das sind mehr oder weniger die Optionen, die den Menschen in »Winter’s Bone« bleiben.

Granik reduziert diesen eingeschränkten Handlungsspielraum allerdings nicht auf eine moralische oder sozialkritische Position. Gerade ihre weiblichen Figuren beeindrucken durch einen knallharten Pragmatismus. Die Männer mögen die Geschäfte führen, aber es sind die Frauen, die im Hintergrund die Geschicke leiten. Mit der häuslichen Gewalt haben sie sich notgedrungen abgefunden, gefallen lassen sie sich dennoch nichts. Das soziale Gefüge des Films, in dem Drogen allgegenwärtig sind, wird zusammengehalten von solch stillen Übereinkünften. Ree ist eine jüngere Wiedergängerin dieser unverwüstlichen Bergmütter. Über das Schicksal ihres Vaters macht sie sich keine Illusionen, ihr geht es nur um das Wohlergehen ihrer Familie. So brutal, wie Granik das Leben der Menschen in »Winter’s Bone« schildert, so konsequent zieht sich doch das Motiv der Familie als verbindliche und verbindende Instanz durch den Film. »Du bist der letzte Mensch, der noch so etwas wie Familie für mich darstellt«, gesteht Rees Onkel, der sie beschützen will. Familie, das ist Bürde und Rückhalt zugleich. »Ich wäre verloren ohne das Gewicht von euch beiden auf meinen Schultern«, erklärt Ree einmal ihren Geschwistern.

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