Kritik zu Unruh

© Grandfilm

Cyril Schäublin (»Dene wos guet geit«) lässt den anarchistisch gesinnten russischen Kartografen Kropotkin 1877 in einem Örtchen im Juragebirge auf die junge Uhrmacherin Josephine stoßen

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Was geht da vor sich? Die Figuren bewegen sich in »Unruh«, Cyril Schäublins zweitem Film, durch unbewegte, dezentral komponierte Tableaus. Manchmal dauert es, zu verstehen, wer im Bild eigentlich gerade mit wem redet. Etwa dann, wenn es um die Porträts geht, die der örtliche Porträtfotograf feilbietet, oder um Geldbeträge, um Versicherungen und immer wieder um die Uhrzeiten innerhalb der verschiedenen Zeitzonen, die es 1877, in der Zeit, in der der Film spielt, gab: Fabrikzeit, Kirchenzeit, Gemeindezeit und Telegrafenzeit. Sagenhaft auch die eingeschobenen Großaufnahmen von der filigranen Uhrenherstellung: ein liebevoller analoger Kon­trapunkt gegen unsere digitale Gegenwart. 

In unserer Highspeed-Gesellschaft ist »Unruh«, für den Schäublin in der Encounters-Sektion der Berlinale 2022 den Regiepreis erhielt, ein Kleinod der Entschleunigung. Das international gefeierte Regiewunderkind, das selbst aus einer Uhrmacherfamilie stammt, wirft uns hinein in die Anfänge der Unruhe in einer kleinen Stadt im schweizerischen Uhrmachertal von Saint-Imier, verursacht durch den industriellen Kapitalismus. 

1877 trifft in dem Örtchen im Juragebirge in historisch inspiriertem Setting die in der dortigen Uhrenfabrik arbeitende Josephine Gräbli (Clara Gostynski) den aus Russland angereisten Kartografen Pyotr Kropotkin (Alexei Evstratov). Letzterer ist dem realen Kropotkin nachempfunden, einem Geografen und Schriftsteller, der in seinen »Memoiren eines Revolutionärs« beschrieb, wie er im Schweizer Jura zum Anarchisten wurde. Während also Film-Kropotkin im Epizentrum der wachsenden internationalen anarchistischen Bewegung mit der Erstellung einer anarchistischen Karte beschäftigt ist, baut die ebenfalls mit der Bewegung sympathisierende Josephine Uhren zusammen. Sie stellt die Unruh her, das Schwingsystem und mechanische Herz der Uhr. Eine vielsagende Tätigkeit in diesem vor vielsagenden Bildern thematisch wie intellektuell überbordenden Film, der mehr Zustand ist, als dass er eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Klassische Protagonisten sind auch Gräbli und Kropotkin nicht. Sie sind zwei unter vielen im kinematografischen Räderwerk, das Schäublin baut. 

Wer dessen Debüt »Dene wos guet geit« gesehen hat, wird die formalen Eigenheiten wiedererkennen. Nahm Schäublin in seinem Erstling, in dem die Schweizer Hauptstadt als anonyme Betonwüste daherkam, den digitalen Turbokapitalismus auf die Schippe, ist Unruh« quasi die historische und zugleich poetischere Schwester. So sehr die Unruhe Einzug hält in diesem Film, wenn der Vorarbeiter mit der Stoppuhr die Arbeitsschritte der Fabrikarbeiterinnen stoppt, so sehr neue Technologien wie der Telegraf oder die Fotografie das Zusammenleben der Menschen verändern und so sehr hier auch Gegensätze wie ein erstarkender Nationalismus auf die anarchistische Idee treffen: Schäublin erzählt davon mit großer Gelassenheit und bietet in tableaux vivants der angehenden Hektik, die uns heute plagt, künstlerisch Paroli. Was für ein vielschichtiges, sympathisches und trotz historischem Hintergrund gegenwärtiges Filmkunstwerk.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt