Kritik zu Platzspitzbaby

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Aufwachsen mit einer drogensüchtigen Mutter: Pierre Monnard hat die Kindheitserinnerungen der Schweizerin Michelle Halbheer verfilmt

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Was lauert dieses Mal hinter der vergilbten Milchglasscheibe? Dahinter befindet sich das Schlafzimmer von Mias (Luna Mwezi) schwerst abhängiger Mutter Sandrine (Sarah Spale), ein zigarettenrauchgeschwängerter, abgedunkelter Raum, in dem im Laufe von Pierre Monnards Drama »Platzspitzbaby« vieles auf die Elfjährige wartet: Mehrfach hängt die Mutter dort einfach genervt und rauchend herum, einmal schaut sie friedlich Kinderserien im Fernsehen, ein anderes Mal liegt sie halb tot im Bett und muss mit Adrenalin ins Leben zurückgeholt werden.

»Platzspritzbaby« ist ein Film, in dem das (vermeintliche) Glück und das größte Unglück nahe beieinander liegen. Mia und Sandrine sind eine Schicksalsgemeinschaft, zusammengeschweißt als Mutter und Tochter, wobei die Tochter der einzige Anker im Leben der Drogenkranken scheint. Was würde mit ihr passieren, wenn Mia einfach abhauen würde? Das Mädchen wächst in unhaltbaren Zuständen auf, muss für Sandrine Stoff besorgen und im Supermarkt Kippen und Schnaps klauen. Doch sie bleibt und verteidigt ihre Mutter vor dem Jugendamt. 

Der Film nach einem Drehbuch von André Küttel ist inspiriert vom gleichnamigen Buch von Michelle Halbheer und Franziska K. Müller. Halbheer schilderte darin, wie sie bei ihrer heroin- und kokainabhängigen Mutter aufwuchs, die zur »Platzspitzgeneration« gehörte. Der Platzspitz, ein Park nahe dem Zürcher Hauptbahnhof, entwickelte sich Ende der 1980er Jahre zum zentralen Treffpunkt der offenen Drogenszene. 

Nicht nur durch die Entstehungsgeschichte erinnert Monnards Film an Adrian Goigingers gefeiertes Drogendrama »Die beste aller Welten«. Auch »Platzspitzbaby« nimmt die Perspektive des Kindes ein und zeigt die zerstörerischen Auswirkungen mütterlicher Abhängigkeit auf die Schutzbefohlenen. Doch wo Goigingers autobiografischer Film durchzogen war von einer Verbundenheit zwischen Mutter und Sohn, wandelt Mia trotz aller Liebe der Mutter drastischer an der Grenze des Ertragbaren. 

»Platzspitzbaby« setzt 1995 ein, als die offene Drogenszene mit koordinierten Einsätzen aufgelöst werden sollte und viele Süchtige in umliegende Ortschaften verbracht wurden. Wir folgen Mia durch ihren heftigen Alltag und bei der Annäherung an Lola (Anouk Petri) und ihre Clique, aus der eine prägende Freundschaft erwächst. Monnard verschweißt hier ein feinfühlig in Szene gesetztes Coming-of-Age mit der Drogenthematik. Einzig die Entscheidung, durch einen imaginären Freund, der hin und wieder auftaucht, eine zusätzliche Introspektive des Mädchens zu erzählen, irritiert.

Das Unglaubliche, ja: unglaublich Gute an diesem kleinen, feinen Film sind die Schauspielerinnen. Sarah Spale spielt die Mutter im Drogenkarussell einnehmend zwischen Zärtlichkeit und Zerstörung, und Luna Mwezi als Mia ist eine Wucht. »Platzspitzbaby« ist der erste Film des beim Dreh zwölf Jahre alten Mädchens, von dem in Zukunft sicherlich noch viel zu hören sein wird. »Bin immer no do«, singt sie in einer emotionalen Szene und man möchte einfach nur losnicken.

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