Kritik zu The Ordinaries

© Port au Prince

Ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt: Sophie Linnenbaum erzählt in ihrer satirischen Sci-Fi-Parabel von einer Gesellschaft, die auf wunderliche Weise komplett filmisch organisiert ist, streng geteilt in Haupt- und Nebenfiguren sowie Outtakes 

Bewertung: 4
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4
4 (Stimmen: 1)

Welch eine bunte, schöne Welt! Die ersten Szenen von »The Ordinaries« zeigen Filmszenen mit dem Flair der 1950er und frühen 1960er Jahre, mit strahlenden Menschen, kräftigen Farben und fröhlicher Musik. Und ähnlich idealisiert und optimistisch wie die filmische Schokoladenseite der Mitte des vergangenen Jahrhunderts erscheint auch die ganze eigenartige Welt, in die uns Sophie Linnenbaum in ihrem ersten langen Spielfilm führt. 

Bereits in Kurzfilmen wie »Pix« oder »Kugelmenschen«, vor allem aber in »Out of Frame« von 2016 hatte sie mit surrealen und Science-Fiction-Elementen sowie mit filmischen Metareflexionen gespielt. Ihr Abschlussfilm an der Filmuni Babelsberg »The Ordinaries«, nicht umsonst bereits vielfach ausgezeichnet, beeindruckt von Anfang an durch die Konsequenz, mit der er zwischen allen gängigen Schubladen erzählt, mit Elementen von Coming-of-Age-Drama, Science-Fiction und Gesellschaftssatire, und wie er auf der Handlungsebene wie auch visuell seine anspruchsvolle Grundidee durchspielt: eine Gesellschaft, die durchgängig von filmischen Kategorien geprägt und dabei streng hierarchisch organisiert ist. »Hauptfiguren« sehen hier nicht nur am besten aus, sondern haben auch die spannenden Geschichten, »Nebenfiguren« füllen eher den Hintergrund und dienen mit ihren sehr limitierten Dialogen als Stichwortgeber, während die von allen verachteten »Outtakes« am Rande der Gesellschaft leben, als graue Masse, oft auch schwarz-weiß oder stumm, ohne Musik, ohne Story.

Paula, gespielt von Fine Sendel, gehört in dieser nur scheinbar harmonischen Klassengesellschaft zur Mittelschicht der Nebenfiguren. Doch Paula hat Ambitionen und fühlt sich ganz anders als ihre phlegmatische, einsilbige Mutter (Jule Böwe) zu Höherem berufen, war ihr Vater doch eine heldenhafte Hauptfigur. So ist sie bereits Klassenbeste im Klippenhängen, überzeugt mit panischem Geschrei und kann auch Zeitlupe. Nun steht sie kurz vor der Prüfung zur Hauptfigur, doch sie hat noch Schwierigkeiten mit der Erzeugung jener wunderbaren Musik durch ihre Gefühle, die von einer Hauptfigur einfach erwartet wird. 

Ihre beste Freundin Hannah (Sira-Anna Faal) – Tochter einer Hauptfigurenfamilie, sie lebt in einer Villa und bricht gemeinsam mit ihren wunderbaren Eltern gern mal in Gesang und Tanz aus, um beispielsweise eine Hymne auf »Emotionen« anzustimmen – animiert Paula dazu, im Archiv des Instituts für Hauptfiguren nach »Flashbacks« ihres Vaters zu suchen, zur Inspiration. Doch Paula wird enttäuscht: Von ihm sind dort keine Erinnerungen archiviert. Während Paulas Herzleser-Apparat immer dissonantere Töne statt der erwünschten harmonischen Melodien ausspuckt, findet sie sich bald auf der Suche nach der Wahrheit über die Identität und den Tod des Vaters wieder. Nicht nur seine Ermordung beim von Outtakes verübten historischen »Massaker« scheint bald fraglich. War er wirklich so eine strahlende Hauptfigur?

Wenn Paulas Weg sie aus der Oberflächen-Idylle der Haupt- und Nebenfiguren in die Elendsquartiere der Outtakes führt, die in düsteren Fabriken für Hintergrundgeräusche schuften oder in einer Kaschemme abhängen, die direkt aus einem proletarischen Drama der Weimarer Republik stammen könnte, positioniert sich »The Ordinaries« fast schon klassenkämpferisch. Aber bierernst wird der Film dann doch nicht. 

Die Liebe zu den sprechenden Details voller filmischer Zitate, Film-im-Film-Pointen und Pirouetten auf der Metaebene sowie der verschmitzte Humor bewahren ihn davor, allzu didaktisch zu werden. So sehen wir beispielsweise bei den Outtakes »mundtot gemachte« Gestalten mit verpixelten Mündern; ein netter junger Mann, den Paula kennenlernt, hat ein Schnittproblem und ist immer nur sprunghaft im Bild; und Hannahs Eltern haben ihr Hausmädchen Hilde aus rein sozialen Gründen eingestellt, ist es doch eine glatte Fehlbesetzung – gespielt vom zerknautschten Henning Peker. 

Die Originalität des Drehbuchs von Linnenbaum und Co-Autor Michael Fetter Nathansky wird dabei keineswegs davon geschmälert, dass es sich in einer Tradition metafiktionaler Erzählungen bewegt und so prominente filmische Vorgänger wie etwa Woody Allens »Purple Rose of Cairo« oder ­Peter Weirs »Truman Show« hat.

Noch beeindruckender als der erzählerische Witz des Films ist der ausgefeilte, in seiner überhöhten Künstlichkeit perfekte Look (Kamera: Valentin Selmke, Szenenbild: Josefine Lindner und Max-Josef Schönborn), dem man die Begrenztheit des Budgets nicht im Mindesten ansieht. Auch Kostüm oder Visuelle Effekte – hier stimmt so ziemlich jedes Detail. 

So wirken bei »The Ordinaries« erfrischende Verspieltheit und handwerklich-gestalterisches Können zusammen, um eine Parabel auf das Wesen der Klassengesellschaft beziehungsweise allgemein auf die Mechanismen von Ausgrenzung zu erzählen. Auch auf dieser Ebene findet der Film Motive, die sich leicht auf unsere reale Welt übertragen lassen, und stimmige Pointen, wenn etwa das erwähnte »Massaker« von den Outtakes ganz anders interpretiert und »Revolution« genannt wird – alles eine Frage des herrschenden Narrativs. 

Wenn im Finale schließlich eine harmonische Musik aus Paulas Herzleser ertönt und eine gemeinschaftliche Ergriffenheit genau jene Sentimentalität nahelegt, von der man in den meisten anderen Filmen befürchten müsste, dass sie am Ende obsiegt und alle Konflikte wegwischt – dann ist das nur ein weiteres charmantes Spiel mit Filmklischees in diesem analytisch scharfen und doch mit viel Wärme erzählten Film.

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