Kritik zu Einhundertvier

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In Echtzeit und mit Splitscreen-Verfahren zeigt der bei DOK Leipzig im vergangenen Jahr mit vier Preisen ausgezeichnete Dokumentarfilm den Ablauf einer Seenotrettung im Mittelmeer

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Im August 2019 rettete das zur Dresdner Organisation Mission Lifeline gehörende Schiff »Eleonore« im Mittelmeer 104 Geflüchtete von einem ohne Antrieb treibenden Schlauchboot. Es blieb seine einzige Mission. Beim späteren Anlegen in einem italienischen Hafen wurde die »Eleonore« konfisziert. Kapitän Claus-Peter Reisch war bereits Bootsführer des Vorgängerschiffs »Lifeline«, zu dessen Aktivitäten seinerzeit ebenfalls eine Dokumentation entstanden ist. Während »Die Mission der Lifeline« 2019 auch die kontroversen Diskussionen rund um das Thema Seenotrettung thematisierte, konzentriert sich Jonathan Schöring in »Einhundertvier« auf das Zeigen der Rettungsaktion.

Der Film setzt ein, als die Vorhut der »Eleonore« per Schnellboot auf das Schlauchboot der Geflüchteten trifft. Zunächst werden Rettungswesten verteilt, dann werden die Geflüchteten nach und nach an Bord der »Eleonore« gebracht. Das Geschehen läuft in Echtzeit ab, unterstrichen durch die stetige Einblendung der Uhrzeit im oberen Bildteil. Der Rest des Bilds ist als Splitscreen in sechs einzelne Bildausschnitte eingeteilt, von denen phasenweise drei oder vier, teilweise auch alle sechs bespielt werden. Zu den gezeigten Perspektiven gehören fest installierte Kameras im Schnellboot und in der Kapitänskabine der »Eleonore« sowie Aufnahmen, die Jonathan Schörnig und Johannes Filous vom Bord der »Eleonore« aus gemacht haben.

Es braucht ein wenig, bis man sich in dem Verfahren orientiert hat; alle Details wahrzunehmen, ist bei einmaligem Schauen schwierig. Dennoch gelingt gerade durch das Zusammenspiel der Perspektiven eine authentische Verdeutlichung der Abläufe. Es ist ein vermeintlich einfaches, aber raffiniertes Konzept, das versucht, das dokumentarische Material möglichst unbearbeitet, ohne Kommentar und zusätzliche Gestaltungsmittel zu zeigen. Dramatik entsteht ganz von allein. Das Schlauchboot der Geflüchteten hat einen Riss und droht zu kentern. Das stetige Abholen und Wegbringen mit dem Schnellboot, während die »Eleonore« sich dem Schlauchboot nähert, wird zum Wettlauf gegen die Zeit. Und dann sorgt auch noch die plötzlich auftauchende libysche Küstenwache für Unruhe. 

Wie quälend langsam so eine Rettungsaktion abläuft, ist einer von vielen Aspekten, die den meisten Menschen wohl nicht unbedingt bewusst sind. Zu einer Art Heldin wird die am Bug des Schnellboots stehende, damals 25-jährige Clara Richter, die für Koordination sorgt und den Geflüchteten immer wieder zuruft, ruhig zu bleiben. Die Anspannung in ihrem Gesicht ist nachvollziehbar, wird doch deutlich, wie gefährlich die Aktion auch für die Crew ist; das wackelige Schnellboot ist zwischenzeitlich so voll, dass Wasser hineinläuft. Auch die »Eleonore« war am Ende komplett überfüllt und musste so mehrere Tage ausharren, bis sie in einem Hafen anlegen konnte. Diese Geschehnisse schildert »Einhundertvier« in einigen kurzen nachgelagerten Szenen. Es wäre wahrscheinlich genug Stoff für einen weiteren Film.

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